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29. Mai

Aachen. Ein Mittwochabend Ende Mai. Pontstrasse, erste Ausgehadresse der Stadt. Das Leben pulsiert um mich herum und ich fühle mich einfach wunderbar. Das war echt eine klasse Idee von mir, einfach noch einmal raus zu gehen und hier bei meinem Lieblingsitaliener eine Kleinigkeit zu essen. Auch, wenn es schon spät am Abend ist und man da eigentlich nichts mehr Essen sollte, weil das direkt auf die Hüften geht.

Egal, das Wetter ist nach langen, verregneten Wochen heute endlich wirklich eine Wucht, ein richtig warmer, vibrierender Frühlingsabend ist es und die Leute sind entsprechend gut drauf. Beinahe unnötig zu erwähnen, dass die Spaghetti mit Scampi an Hummersoße herrlich sind. Das sind sie nämlich hier bei Luigi immer, bei jedem Wetter. Eine wahre Wonne. Das Wetter und das Essen. Mein Teller ist ziemlich bald vollständig geleert und auch der letzte Tropfen Soße mit Brot vornehm aufgetunkt. Nur meine einigermaßen gelungene Erziehung verbietet mir an dieser Stelle den schamlosen Einsatz meiner Zunge, so köstlich ist das Gericht. Anstandsrest? Wäre bei einer solchen Köstlichkeit reine Sünde, wenn nicht gar Beleidigung der Küche. Oder noch Schlimmeres.

Luigi nickt mir überschwänglich zu, ein derart leerer, feinweiß glänzender Porzellanteller nach dem Essen ist für ihn wie eine romantische Liebeserklärung an die Küche. An seine Küche und die ist nun mal seine Leidenschaft. Meine auch, muss ich zugeben, was man meinen Hüften im Gegensatz zu seinen schlanken Kellnerlenden auch deutlich ansehen kann. Aber heute ist das alles egal, heute ist ein Tag, an dem die inneren Werte zählen. Die dummerweise immer dann herhalten müssen, wenn es von äußeren Unannehmlichkeiten abzulenken gilt. Ich nicke also hold lächelnd mit der gesamten Kraft meiner inneren Werte zurück. Luigi eilt herbei und räumt strahlend den Teller ab.

„Darf es noch ein Glas Wein sein, bella Uschi?“

Ich überlege nur kurz, werfe diesem entzückenden Mann einen dankbaren Blick zu und bestelle ein zweites Glas Rotwein. Manchmal ist es ja so wichtig, persönlich gekannt und angesprochen zu werden. Das ist gut für die Psyche einer Frau, die im Begriff ist, eine Art Schallmauer zu durchbrechen und die sich auf ein Leben in einer Parallelwelt vorbreiten muss. Was dort auf einen zukommt, kann man nur ahnen, mit mulmigem Gefühl in den mit Nudeln und Scampi verwöhnten Eingeweiden. Es drohen Abschied, Umschwung, Veränderung. Denn in wenigen Monaten werde ich vom Leben gezwungen, eine zeitliche Demarkationslinie zu übertreten, die beinahe bedeutet, in die Verbannung geschickt zu werden. Heute, heute bin ich noch neunundvierzig Jahre alt, die nächsten paar Monate bis zum achtzehnten August wird das auch so bleiben, aber dann, dann ändert sich alles. Dann werde ich fünfzig. Und mit diesem biologischen Paukenschlag übertrete ich eine unsichtbare Schwelle, die die Normalbevölkerung von der sogenannten „Ü-50“ Generation trennt. Was früher Senioren hieß, sind heute die Ü-50iger, Best-Ager oder schlicht die Plus-Gruppe.

Von nun an fällt man aus dem Raster der Zielgruppen jeglicher Statistik für normale Bürger heraus, die sich von achtzehn bis neunundvierzig erstreckt und das geht automatisch mit dem sprunghaften Anstieg der Gesundheitskosten einher, gefolgt von ebenso steigenden Kosten für Kosmetik, grauabdeckenden Haartönungsmitteln und Vitamintabletten. Und als wäre das nicht schon genug, flattern urplötzlich und unaufgefordert Werbeprospekte für Schönheitsoperationen, Fastenkuren und Wellnessangebote für die gesunde Altersvorbereitung und den Erhalt der Knochendichte, für Heizdecken und sogar für Treppenlifte ins Haus. So haben es jedenfalls meine Freundinnen und Bekannte erlebt, die sich schon dort aufhalten, in diesem weiblichen Niemandsland, in dem man zu allem Überfluss für die männlichen Mitbewohner dieses Planeten auch noch komplett unsichtbar wird. Ja, es drohen harte Zeiten. Kein Wunder also, wenn ich mich schon jetzt, mit neunundvierzigdreiviertel, darüber freue, von Luigi persönlich wahrgenommen und angesprochen zu werden. Wie gesagt, das ist gut für die weibliche Psyche. Und was den Wein betrifft; der ist mindestens genauso gut für mein strapaziertes Seelchen, auch wenn das zweite Glas davon eigentlich eines zuviel ist, zumindest wenn man den Empfehlungen der Ärzte Glauben schenken darf, die der weiblichen Leber zu maximal einem kleinen Gläschen täglich raten. Aber was soll es, ein Glas vertrage ich schon noch, schließlich trinke ich ja nicht jeden Tag Alkohol und außerdem ist heute ein besonderer Tag. Warum? Weil ich zum ersten Mal im Freien sitzen kann am Abend in diesem Jahr. Oder weil es mir endlich wieder gut geht.

Auch alleine. Denn als wenn diese Bedrohung des kommenden neuen Zeitalters nicht schon entsetzlich genug wäre, hat mich mein Nochehemann Werner vor ein paar Monaten auch noch einfach sitzen lassen. Verlassen. Abserviert. Wegen dieser Arzthelferin. Wenn es nun wenigstens eine Frau meines Kalibers gewesen wäre, eine Studierte, aber eine Arzthelferin! Unfassbar ist das. In den zurückliegenden Wochen habe ich praktisch an nichts, aber auch an gar nichts anderes denken können als an dieses unwürdige Abserviertwerden. Schrecklich ist das gewesen, ist es ja eigentlich noch, aber immerhin kann ich nun schon viel besser damit umgehen. Aber dieses ständige Gedankenkarussell, das war nun wirklich die Hölle. Wegen einer Arzthelferin! Ach, was soll es, ich höre jetzt einfach auf mit dieser inneren Quälerei und genieße die neue Freiheit, den Mai und das Leben in meiner beschaulichen Heimatstadt, in der sich schon die Römer wegen der vielen warmen Quellen wohl gefühlt haben. Ich genieße all das jedenfalls so gut es alleine eben geht. Alle Arzthelferinnen dieser Welt können mir gestohlen bleiben. Herrlich ist dieser Rotwein aus der Toskana und wunderbar der Abend. Doch, es ist schön hier zu sitzen, im mittleren Teil der Pontstrasse, jener Kneipen- und Restaurantmeile im Herzen des Aachener Studentenviertel. Diese Strasse ist ganz schön lang und zieht sich vom großen Ponttor, das einmal Teil der alten Stadtbefestigung gewesen ist, bis hinauf zum Marktplatz, an dem das geradezu majestätisch wirkende Rathaus thront, mit dem Dom im Rücken, dem Wahrzeichen der Stadt. Solche alten Gemäuer haben immer etwas Ehrwürdiges und ich wünschte mir manchmal, sie könnten Geschichten erzählen und uns teilhaben lassen an dem, was alles so geschehen ist in den unzähligen Kapiteln ihrer durchlebten Geschichte. Und eine unendlich bewegte Geschichte hat hier in der alten Kaiserstadt wirklich statt gefunden. Geradezu Geschichte satt mit Kriegen, sagenumwobenen Schmuggelzeiten zwischen diesen Kriegen, etlichen Königs- und sogar Kaiserkrönungen. Allerdings interessiert mich meine eigene Geschichte derzeit deutlich mehr als die meiner Heimatstadt, denn es bewegt sich so einiges in meinem Leben. Mehr als mir lieb ist, wenn ich ehrlich bin und diese Bewegung geht eindeutig erst einmal in die falsche Richtung. Ich seufze schwer.

Durch Werners Auszug bin ich gezwungen, ein neues und einsames Kapitel zu beginnen, ob mir das nun gefällt oder nicht. Und es hat mir bisher gar nicht gefallen, das muss ich zugeben, denn dieses Verlassenwerden hat mich zutiefst verunsichert und meinem Selbstbewusstsein mächtige, fjordtiefe Kerben zugefügt. Und genau daran gedenke ich nun zu arbeiten, ich will wieder unter Leute gehen und mein geschwächtes kleines Ego aufpäppeln. Sich alleine nach draußen zu bewegen ist immerhin ein Anfang, damit präsentiere ich mich wieder der Öffentlichkeit, die ich seit einigen Monaten tunlichst gemieden habe. Aber damit ist jetzt Schluss, es gibt keinen Grund für dauerhafte Tristesse und wochenlanges Couchbesetzen mehr, denn ich kann doch eigentlich zufrieden mit mir sein. Ich sehe nicht schlecht aus, na gut, ein paar Kilo zu viel um die Hüften habe ich schon, aber wer hat die nicht in meinem Alter. Beruflich bewegt sich was und diesmal sogar in die richtige Richtung, für die große Müllersche Buchhandlung habe ich am kommenden Wochenende eine wichtige Lesung zu organisieren, klappt doch alles beinahe bestens. Ich, studierte Germanistin, erfolgreiche Literatur- und Eventmanagerin. Das klingt gut und fühlt sich auch so an. Darauf gleich noch ein Schluck süffigen Toskanatropfen. Ein tröstlicher Hauch eines längst vergessenen Gefühls von Zufriedenheit flackert in mir auf und breitet sich allmählich aus, was vielleicht auch an der mittlerweile einsetzenden Wirkung des Weins liegen könnte, aber egal, ich genieße das ganz einfach. Schließlich ist Frühling. Und die Spaghetti waren sooo lecker.

Genüsslich lehne ich mich zurück, schlage die Beine übereinander und nippe noch einmal an meinem Weinglas. Und schüttele beinahe ungläubig über mich selber den Kopf. Es ist tatsächlich das erste Mal, das ich alleine ausgehe, seit Werner mir eröffnet hat, dass er sich unsterblich in die Hauptkraft seiner Praxis verliebt habe und mich verlassen würde. Mit schlechtestem Gewissen zwar, aber er würde mich verlassen. Nur gut, dass ich selten in seiner Praxis bin, so kenne ich diese Schnepfe wenigstens nicht auch noch.

Das ist heute genau fünf Monate her. Fünf Monate, die ich hauptsächlich zu Hause damit verbracht habe, zu heulen, mich zu bemitleiden und aller Welt zu zeigen, wie schlecht es mir doch ergangen ist. Die Welt oder besser gesagt Werner, ist todesungerecht zu mir gewesen und jeder hat mein Elend sehen sollen. Leider hat mich längst nicht jeder bemitleidet, eigentlich sogar die wenigsten, wenn ich ehrlich bin. Die Welt hat sich auch ohne meine aktive Teilnahme einfach weitergedreht und die meisten meiner Mitmenschen haben meinen Kummer nicht einmal erkannt, geschweige denn in irgendeiner liebreizenden Form daran teilgenommen oder mich gar standesgemäß bemitleidet und getröstet. Aber ich bin zurechtgekommen. O.k. zunächst einmal gar nicht, später ein bisschen und nun schon besser. Ein bisschen besser. Doch wirklich. Ich denke, ich bin jetzt soweit, Werner vergessen zu können. Fünf Monate müssen reichen für die Bewältigung von fünfundzwanzig Jahren ehelicher Gemeinschaft. Finde ich zumindest. Emotionen für ihn? Habe ich keine mehr. Ganz sicher nicht.

Lässig und cool schweift mein Blick umher und taxiert die vorüber flanierenden Menschen. Die da, die Blonde ist nun wirklich zu dünn. Vielleicht blitzt aus meinen Augen aber auch nur der Neid einer Frau in den Wechseljahren, die noch nie wirklich so richtig dünn gewesen ist. Seltsamerweise habe ich schon immer einen kleinen kugeligen Bauch gehabt. Auch in ganz jungen Jahren. Unnötig zu erwähnen, wie ich mein gesamtes bisheriges Frauenleben hindurch darunter gelitten habe. Ein ayurvedisch arbeitender Arzt hat mir mal erläutert, das sei eine Folge meines Typus, einer festgelegten körperlichen Ausprägung, die eindeutig zum Kapha Typ gehöre, der nun einmal zum dick werden neige. Klingt vollkommen uncharmant aber dafür absolut logisch und zutreffend. Wie ein Büffel eben und genauso fühle ich mich oft genug in Gesellschaft von Frauen, die an der entgegengesetzten Problematik leiden und eher zum Typ magersüchtige Gazelle gehören. Wie man das auf ayurvedisch nennt, habe ich nie in Erfahrung bringen können.

Ups, was diese beiden Damen mittleren Alters, die nun vorüberspazieren, da an Schminke im Gesicht haben, damit komme ich ein Jahr lang aus. Seltsamerweise sieht man die Falten unter viel Make-up eher deutlicher als ohne, finde ich. Und auch mit vielen Pfunden Schminke im Gesicht werden wir Althühner nicht mehr die Haut einer Zwanzigjährigen haben. Leider. In meinem Alter wünscht man sich ja beinahe die Pickel der Pubertät zurück, jene Zeugen eines ins Erwachsenleben stolpernden Hormonsystems, deren pure Anwesenheit eine Art Aufblühen symbolisiert. Das heutige hormonelle Rumstolpern kündet eher von einem Ende, einem drohenden Abschied und unsere knittrigen Häute haben definitiv keine Pubertätspickel mehr. Nie wieder.

Ein tiefer, ungemein wohltuender Seufzer entweicht mir. Es ist nicht einfach, sich an all die Veränderungen zu gewöhnen, die meine derzeitige Lebensphase so mit sich bringt. Besonders, wenn der eigene Mann einen hat sitzen lassen. Also weiter schauen, wer noch so vorüber schlendert. Heute sind viele Männer unterwegs, große, gut aussehende, kleinere, kecke und brav wirkende aller Altersstufen und Gewichtsklassen. Allerdings sind darunter einige Exemplare wirklich unattraktiv. Manche sind gefährlich dick, andere wieder sehr ungepflegt und ab und zu trifft auch mal beides zusammen zu. Da kann es frau echt nur schütteln. Die wenigen wirklich hübschen Jungs, die unterwegs sind, haben aber auch wieder ein Problem; sie sind eindeutig zu jung für mich. Oder sie haben eine Frau an ihrer Seite. Was zwar nicht unbedingt etwas über den Zustand der Beziehung aussagt, wie ich ja selber gerade schmerzlich habe lernen müssen, aber vergeben sind sie trotzdem erst einmal, diese Leckerchen. Schade, dass der Beziehungstrend noch immer dem uralten Muster folgt, bei dem es so gut wie nie vorkommt, dass ein junger Mann sich in eine ältere Frau verliebt. Außer man heißt Demi Moore, lebt in Hollywood und trifft einen Ashton Kutcher. Das hält dann wenigstens ein paar Jahre lang, für immer gibt’s auch dort nicht. Aber im normalen Leben ist so eine Paarung selten. Sehr, sehr selten. Es läuft meistens andersherum, jüngere Männer verlieben sich in junge Frauen und ältere Männer auch. Was also notgedrungen bedeutet, dass junge Frauen eine grandiose Auswahl haben und auch noch leichte Beute machen können, während uns älteren Semestern nur das Nachsehen bleibt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich seufze schon wieder. Trotz der immensen Ungerechtigkeit der Welt beschließe ich nun erst einmal, meine destruktiven Gedanken beiseite zu schieben und diesen Abend wirklich zu genießen. Einfach nur dasitzen, gut essen und trinken und herumgucken.

Es ist so etwas wie eine Feldstudie des freien Marktes, was ich hier betreibe, denn aufgrund dieser unvorhersehbaren und dramatischen Veränderung in meinem Leben –ich bin immerhin ungewollt Single geworden- muss ich mich ja erst einmal wieder darüber informieren, was noch so da ist im Angebot des potentiellen partnerschaftlichen Marktes. Falls es einen Ü-50 Markt denn überhaupt gibt. Aber wie sagt man so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt, das wenigstens gilt für jedes Alter. Bis zuletzt. Also ich meine, bis zu aller, allerletzt. In den vergangenen Jahren sind Männer für mich Kumpel, Kunden, Kollegen meines Mannes oder einfach nur gute Bekannte gewesen. Ich bin nicht auf der Suche gewesen, ich habe das nicht nötig gehabt, ich bin ja glücklich verheiratet gewesen. Doch, das habe ich tatsächlich angenommen. Und es ist uns ja auch gut gegangen, dem Werner und mir. Aber irgendwas muss dann doch passiert sein. Oder ich habe mich in seinen Augen nicht mehr genug um ihn bemüht. Oder ich bin nicht schlank genug gewesen. Oder ich konnte einfach nicht mit einer jüngeren Frau mithalten, weil das ein Naturgesetz ist. Junge Frauen sehen schöner aus als ältere. Basta. Aber was auch immer geschehen ist, ich bin fest entschlossen, wieder eine Bindung einzugehen. Allein zu bleiben für den Rest meines Lebens, das will und kann ich nicht. Nein, das werde ich zu verhindern wissen. Hoffe ich. Und der erste Schritt ist, sich gut zu informieren, die schlauen weiblichen Äuglein aufzuhalten und eben den Markt zu sondieren, denke ich mir jedenfalls so. Bisher ist aber nix für mich dabei gewesen, an diesem schönen Frühlingsabend. Da hinten geht jemand, der käme in Frage vom Alter her, der sieht Werner sogar ähnlich. Aber der würde niemals einen so scheußlich auf jung getrimmten roten Seidenblouson tragen. Oder? Oder etwa doch? Aber nein, nein, das kann doch überhaupt gar nicht sein. Niemals. Doch!? Oh mein Gott, das ist er. Werner. Es ist tatsächlich mein Werner. Mein Ehemann. Besser, mein Nochehemann und zukünftiger Exgatte. Nur schnell hinter der Speisekarte verstecken. Das ist Werner. Ich fasse es nicht. In einem Seidenblouson. Igitt. In Terrakottarot. Das ist nur was für Wände und Töpfe, Junge, aber nicht zum Anziehen. Da kommt ganz klar Fremdscham auf. Und die Tussi an seinem Arm, die ist ja so jung, die könnte glatt seine Tochter sein. Das glaubt mir keiner.

Werner, was tust du da? Ich werde ohnmächtig, glaube ich. Und der alte Knacker turtelt auch noch schamlos mit diesem Huhn. In aller Öffentlichkeit. Ich kriege gleich einen Herzanfall, meine Pumpe schlägt schon jetzt so, als ob sie mir jede Sekunde aus dem Hals springen müsste. Jetzt sofort. Oh, oh, oh mein Gott, er nähert sich. Was tue ich nur? Ich suche was in der Tasche. Meine Güte, am liebsten würde ich komplett darin versinken. Oder am liebsten gleich im Erdboden. Wie peinlich. Wie unerträglich. Wie entsetzlich. Werner mit einer viel, viel jüngeren Tussi. Das ist doch Klischee. Ekelhaft.

Mal vorsichtig aufgucken, ja, sie müssten jetzt langsam vorbei gegangen sein. Ja, sind sie. Und jetzt schaut diese Blöde sich auch noch nach irgendwas um. Oh mein Gott, ist die hübsch. Und wie selbstverliebt und zufrieden sie lächelt. Ich will auf der Stelle tot sein. Her mit dem Rest von dem Rotwein. Runter damit. Auf Ex, verdammt, wie passend. Ich muss hier weg. Sofort. Irgendwie schaffe ich es also mit hektischem Winken, Luigi klar zu machen, dass ich gerade einen wichtigen Anruf bekommen habe und nun sofort aufbrechen muss. Kleine Notlüge, muss sein an dieser Stelle. Die Rechnung kommt prompt. Irgendwie schaffe ich es in meinem rotweintrunkenen Kopf dann auch, auf dem schnellsten Weg nach Hause in die Ursulinerstrasse zu rennen, jener Strasse mitten im Herzen der Altstadt gleich hinter dem historischen Elisenbrunnen, die gerade im Begriff ist, eine Flaniermeile zu werden. Naja, rennen ist vielleicht übertrieben auf meinen hohen Schuhen, aber ich eile schon sehr zügig die Pontstrasse hinunter Richtung Rathaus, habe dabei an diesem Abend keinerlei Augen für die wunderschönen alten Häuser oder gar die altehrwürdige Kulisse von Rathaus und Dom, der sich stolz in den Nachthimmel reckt.

Selbst der steinerne Kaiser Karl scheint mir von seinem Brunnendenkmal vor dem Rathaus verächtliche Blicke zuzuwerfen. Mein Kopf hämmert und mein Puls rast, während mein innerer optischer Speicher immer nur dieses eine Bild auswirft; Werner und diese unverschämt hübsche, viel zu junge Frau. Unterwegs bleibt einer meiner Hacken auch noch in diesem high-heel feindlichen Aachener Kopfsteinpflaster stecken, bricht ab und ich knicke kurz um. Den stechenden Schmerz in meinem linken Knöchel ignoriere ich. Noch. Nachdem ich auf unterschiedlich hohen Schuhen endlich vor dem Haus angekommen bin, in dem unsere geräumige Luxusstadtwohnung in der obersten Etage liegt, ziehe ich mir noch im Hausflur meine lädierte Fußbekleidung aus, nehme sie in die Hand und humpele nach oben, mich mit einer Hand am Geländer emporziehend, denn das lindert ganz eindeutig den Schmerz. Dieser Luxus hier hat nämlich einen gewaltigen Haken, das Stadthaus ist alt und daher gibt es keinen Lift. Bald soll einer eingebaut werden, aber das gilt schon seit Jahren und niemand weiß, wann genau bald sein wird. An diesem Abend verfluche ich jedenfalls jede einzelne Stufe. Und Werner, den sogar mehrfach. Oben auf der letzten Etage angekommen, fühle ich mich, als wäre ich von einem Zug überrollt worden. Mein Herz hämmert besorgniserregend, mein Puls scheint beinahe zu explodieren, meine Füße schmerzen nun beide und mein linker Knöchel zeigt eine schimmernde Blaufärbung. Doch all diese körperlichen Probleme sind nichts gegen meinen Seelenzustand, der am Abgrund taumelt. Ich bin ein menschliches Wrack. Zugrunde gerichtet von einem Kerl. Kuschke. Doktor Werner Kuschke, Alter fünfundfünfzig Jahre, Beruf Orthopäde, erfolgreich und vermögend mit bester Praxis seiner Zunft in der Stadt. Der Mann mit der Lizenz zum seelischen Töten seiner eigenen Ehefrau. Ich heule nur noch, die mal wieder nicht wasserfeste Wimperntusche läuft mir über die Wangen, der Rotz aus meiner Nase und ich jaule los wie eine Sirene. Eine spontan aufsteigende, wechseljahrbedingte Hitzewallung lässt zudem mein Haar vor lauter Schweiß in Sekundenschnelle am Kopf kleben, nichts, wirklich gar nichts bleibt mir erspart an diesem Abend. Meine Handtasche und die Schuhe schmeiße ich achtlos auf das Sofa, schnappe mir eine Rolle Küchentücher und heule erst mal weiter drauf los.

Eine ganze Weile geht das so. Ich sitze da und heule einfach…

Dies war eine Leseprobe aus: Tagebuch einer Verlassenen

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