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Es war einmal vor Hunderten von Jahren, weit vor unserer Zeit, eine gütige Nonne. Ihr Name war Olana und sie lebte in einem Kloster, das in einem fernen Land lag. Dieses Land lag weit hinter dem Horizont unserer Vorstellung und war nur bei Vollmond über tausend Berge, einhundert tiefgrüne Wälder und fünfzehn blauschimmernde Ozeane zu erreichen.

Nun trug es sich zu, dass Olana die letzte Schwester ihres Ordens war und sie wusste, dass für sie der Tag angebrochen war, an dem sie die Erde verlassen würde. Genau dieser sonnige Junitag würde ihr letzter sein. Es war ein heiliger Tag und Olana war voller Frieden.

Aber sie hatte noch einen Wunsch und auch noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen und deshalb zog es sie aus der modrigen Luft der Zimmer des alten und an vielen Stellen bereits verfallenen Gemäuers hinaus in die wärmenden Strahlen der Sonne. Ein letztes Mal schleppte Olana ihre müden Glieder in den Klostergarten, der geschützt hinter Mauern lag und der ihr mehr bedeutete als irgendetwas anderes auf der Welt. Ihr ganzes Klosterleben lang hatte sie ihn gehegt und gepflegt, sich an dem Wachsen und Sprießen der Blumen, Sträucher, Büsche und Bäume erfreut und über üppige Ernten ihrer Heilkräuter gejubelt, für deren Anbau sie bis weit über die Grenzen des Landes bekannt war.

Einmal noch musste sie ihn sehen, ihren Garten, wollte sie die Düfte von Rosen und Lavendel, von Rosmarin und Thymian atmen und ihre Freunde, die Pflanzen und Tiere, die dort lebten, besuchen. Das war es, was sie sich wünschte, bevor ihre Zeit endgültig gekommen war.

Da es um ihre Gesundheit schon lange nicht mehr gut bestellt gewesen war, war der Garten allerdings bei weitem nicht mehr so gepflegt wie früher. Das Unkraut hatte sich auf den Wegen zwischen ihren geliebten Heilkräuterpflanzen breit gemacht, die Kletterrosen wucherten ungebändigt über die Mauern und erfüllten die Luft mit ihrem betörenden Duft, die Beerensträucher waren groß und unförmig geworden, boten dafür aber den Vögeln üppige Nahrung und Raum zum geschützten Nisten. Die Nonne Olana lächelte. „So sei es denn, alles geht seinen Weg, bald erobert sich die Wildnis diesen Garten zurück,“ murmelte sie leise.

Ein kleines Stückchen noch und dann sank sie endlich auf die ehemals weiß gestrichene hölzerne Gartenbank, von der mittlerweile die Farbe abblätterte. Stunden hatte sie hier, im hinteren Teil des Gartens, nahe dem Teich mit den Seerosen verbracht, sich von der Arbeit erholt, mit den Pflanzen gesprochen und die Tiere am Teich beobachtet.

Olana seufzte schwer. Ihr Körper war mit diesem Gang in den Garten vollkommen überfordert, jeder einzelne Knochen in ihrem Leib stach, der Rücken brach beinahe auseinander vor glühenden Schmerzen und die Lunge pfiff bei jedem Atemzug einen zirpend hohen Ton. Trotz alledem aber war sie einfach glücklich, sie hatte es bis hierher, bis in ihren Garten geschafft. Das war es, was zählte und das war es, was sie mit tiefer Freude und Dankbarkeit erfüllte. Ihr Blick glitt über den Teich. Und genau in diesem Augenblick kletterte ein etwas unförmig aussehendes längliches Insekt aus den Tiefen des schlammigen Tümpels am Stengel einer Wasserpflanze empor, schüttelte sich und sprengte seine Larvenhülle. Die Nonne sah genauer hin und wagte kaum zu atmen, denn aus der eher hässlichen Hülle schlüpfte eine vollkommen fertige kleine Libelle, so elfenhaft durchscheinend und zart, dass es ihr fast den Atem nahm.

„Du wundervolles kleines Wesen, du“, sprach sie zu dem Insekt, das erstaunt mit den großen Augen klimperte.

„Wer spricht zu mir? Normalerweise können wir Libellen nicht mit den Menschen reden.“

„Olana ist mein Name und es hat einen Grund, dass du mich verstehen kannst, es ist Teil einer Aufgabe, die ich noch zu erfüllen habe.“

Die junge Libelle entfaltete ihre vier Flügel und surrte ein wenig damit, zur Übung. Dann flog sie hoch und setzte sie auf die Lehne der Bank, auf der Olana mehr hing als saß. Mit großen Augen musterte sie die alte Frau. Ihre Flügel glitzerten nun in der Sonne wie Diamanten und sie bewegte sie so anmutig, dass Olana an die scheinbare Schwerelosigkeit der Tänzer erinnert wurde, denen sie stets mit größter Begeisterung zugesehen hatte.

„So, du hast also zu mir gesprochen. Ich darf mich vorstellen, ich bin Libanette, eine Botin der vier Elemente und deren Naturgeister. Meine Entwicklung verläuft von der Erde ins Wasser und wie du gerade beobachten konntest, von dort in die Luft und dann ins Licht. Ich trete also mit allen Elementargeistern dieser Welt in Kontakt.“ Selbstzufrieden und stolz surrte sie abermals mit den Flügeln und sah Olana mit ihren großen Augen ein klitzekleines bisschen überheblich an.

„Ich weiß, kleine Libanette, dass du etwas ganz Besonderes bist. Aber nicht nur, weil du eine besonders schöne Libelle bist, sondern weil du das letzte Wesen bist, das ich in diesem Leben treffen werde. Meine Lebensenergie schwindet, aber ich habe noch etwas Wichtiges zu tun.

Nur in meinen letzten irdischen Minuten kann ich ein Geschenk weitergeben, das aus zwei Teilen besteht. Das Wesen, das mir zu aller letzt auf dieser Erde begegnet, soll mit dem ewigen Leben gesegnet werden. Und das bist du, kleine Libanette. So war es der Wille meines Schöpfers und so gebe ich dieses Geschenk nun an dich weiter. Aber das ist nur der erste Teil meiner Gabe. Mit diesem ewigen Leben sollst du durch die Welt ziehen und die Menschen berühren und bereichern. Sie werden es brauchen, sehr sogar. Je moderner sie werden, desto mehr. Wenn du ihnen auffällst, kannst du ihre Herzen berühren und ihre Seelen bereichern. Diese Menschen haben dann die Möglichkeit, etwas über sich selbst, ihre Intuitionen und Lebensaufgaben herauszufinden. Oder etwas über all jene Welten zu lernen, von denen sie kaum ahnen, dass sie existieren: den Welten der Feen, Elfen, Gnome und Trolle und aller anderen Wesenheiten, wie sie für dich normal sind, kleine Libanette, denn du kannst sie alle besuchen, sehen und verstehen. Und das ist die eigentliche Gabe, um die es geht. Das ewige Leben ist nur die Voraussetzung dafür, die Menschen über lange Zeit studieren zu können und alles über sie zu erfahren. Sie zu berühren und zu bereichern, Libanette, das ist der eigentliche Teil dieser Gabe.“ Olana machte eine Pause, selbst das Sprechen erschöpfte sie. „Möchtest du die Gabe von mir annehmen?“

Dies war eine Leseprobe aus: Die Gabe der Libelle Libanette

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