Mönchengladbach, Juli 2001, laue Sommernacht
Hier sitze ich nun auf meiner Terrasse, genau drei Wochen nach meinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Der leichte Wind der lauen Julinacht streichelt mein Gesicht und lässt das Laub der Büsche im Garten rascheln. Heute ist es ein herrlicher Garten, genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Hinter dem Haus ein italienisch anmutender Hof mit Springbrunnen und großen Terrakottatöpfen, vorne, vor der Längsseite des Hauses eine große, sattgrüne Rasenfläche mit dezent geschwungenen Beeten voller Rhododendron und einigen immergrünen Kirschlorbeerbüschen. Aber es sind nur wenige Kirschlorbeerbüsche, die das Massaker überlebt haben. Ich sitze hier und kann sie kichern hören. Es gibt nichts Schlimmeres als kichernde Kirschlorbeeren in einer romantischen Julinacht. Ehrlich! Mein Mann Markus hat sich anfangs ernsthafte Sorgen gemacht, als ich ihm erzählte, dass diese Büsche kichern. Aber sie tun es und ich kann es hören. Leider kann nur ich es hören und zwar seit einem halben Jahr, seit ich begonnen habe, den Garten umzugestalten.
Mönchengladbach, Januar 2001, nasskaltes Wetter.
Ich starrte aus dem Fenster. Dichter Dauerregen fiel vom Himmel. Das neue Jahr hatte gerade erst begonnen und bemühte sich nach Leibeskräften, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Ich fühlte mich matt und ausgelaugt, wie immer in den Schulferien. Seit gestern war Markus mit seinen Freunden für ein paar Tage zum Skifahren gestartet. Da ich höllisch unsportlich war, vermied ich es schon seit längerem, ihn bei solchen Reisen zu begleiten. Und nun langweilte ich mich unendlich. Mein Blick schweifte durch den Garten, der sich in nassem Dunkelgraugrün präsentierte. Die Beete, die die große Rasenfläche vor dem Haus einrahmten, sowie der schmalere Teil des Gartens hinter dem Haus, an dem mein Wintergarten angebaut war, waren von den ehemaligen Besitzern des Hauses mit pflegeleichten immergrünen Kirschlorbeersträuchern bepflanzt worden. Ich liebte den Wintergarten vom Tag des Einzugs an. Und nun fiel mir auf einmal auf, wie dicht sich die Kirschlorbeeren an mein Lieblingszimmer herangepirscht hatten. Langsam, schleichend, wuchernd. Ich war irritiert. Wieso war mir das nicht viel früher aufgefallen? Wieso ließ ich das zu? Ich konnte sie ebenso gut zurückschneiden. Ich hatte ja sowieso nichts Besseres zu tun. Wo hatte ich bloß die alte Rosenschere? Damit musste es doch gehen. Entschlossen zog ich mir die Regenjacke an, stopfte mir den Hut auf den Kopf, schlüpfte in meine Gummistiefel und machte mich an die Arbeit. Was für ein Heidenspaß! Leider war die Schere nicht besonders scharf, so dass ich immer neue Techniken des Abreißens, Abdrehens oder -zerrens der dicken Äste einfallen lassen musste. Dennoch überaus motiviert und vom schnellen Erfolg beflügelt, hielt ich diese schweißtreibende Arbeit über zwei Tage durch. Auch der Regen hielt durch. In der hinteren Ecke des Gartens hatte ich einen großen Berg abgeschnittener Kirschlorbeerzweige aufgetürmt, als mich am dritten Tag eine saftige Erkältung erwischte, die meinem Tun ein jähes Ende setzte.
In der Nacht, bevor Markus nach Hause kam, hatte ich dann diesen Alptraum, der meine friedliche kleine Welt für immer verändern sollte. In diesem Traum war ich wieder mit einer Schere unterwegs. Sie war mörderisch groß und irrsinnig scharf. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich bekam nichts ab von den Kirschlorbeerzweigen. Und schlimmer noch: die Büsche begannen, bei meinen albernen Versuchen zu kichern. Erst vorsichtig. Dann deutlicher. Schließlich war es mir, als schalle ihr Gekicher aus den umliegenden Nachbargärten wie ein Echo aus tausendfacher Kirschlorbeerkehle zurück. Ich hielt mir die Ohren zu, aber sie waren übermächtig. Und sie drohten mir, sie würden so schnell wachsen, dass ich niemals mit meinem stümperhaften Schneiden hinterherkommen würde. Schweißgebadet wachte ich auf. Die Stille, die im Zimmer herrschte, schmerzte fürchterlich. Ich blinzelte auf die Uhr. Drei Uhr siebzehn. Egal. Ich stand schniefend auf, zog mir den Bademantel an und ging in den Flur. In der großen Kommode suchte ich nach Markus Taschenlampe, die er sich letztes Jahr extra für einen fünftägigen Survivaltrip in die Lüneburger Heide angeschafft hatte. Dieser Trip hatte bereits am zweiten Tag in einem fünf-Sterne-Hotel geendet und seither war die Taschenlampe nie wieder benutzt worden. Ich probierte sie aus, sie funktionierte. Mit klopfendem Herzen schritt ich zur Terrassentür und öffnete sie. Dann trat ich in die Dunkelheit der feuchtkalten Januarnacht. Ich eröffnete das Feuer meiner Taschenlampe und richtete ihren Strahl auf den Haufen Kirschlorbeerzweige hinten im Garten. Die Taschenlampe erhellte mit greller Nüchternheit die Erfolge meiner zweitägigen Arbeit. Auch die Löcher in den Sträuchern, die ich geschlagen hatte und die im Schein des Lichtstrahls auf bizarre Weise leuchteten, zeugten von meinen erfolgreichen gärtnerischen Taten. Ich atmete lächelnd auf. Also alles doch nur ein Traum.
Da geschah es. Leise. Ganz zaghaft, aber ich konnte es genau hören.
Die Kirschlorbeeren kicherten tatsächlich!
Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn und mit einem Satz brachte ich mich wieder in die Sicherheit des warmen Wohnzimmers, warf die Tür ins Schloss und drückte die Survivaltaschenlampe eng an meine Brust. Sie kicherten. Selbst hier drinnen konnte ich es hören. Leise, aber deutlich. Mir war klar, ich würde es niemandem erzählen können. Aber mir war auch klar; ich würde nicht aufgeben. Erschrocken und erschöpft zugleich tapste ich zurück in mein Bett, das mich mit tröstlicher Wärme umfing und mich nach einiger Zeit gnädig zurück in den Schlaf führte. Die Survivaltaschenlampe lag neben mir, sicherheitshalber.
Engel für dich
Auf der Intensivstation ist es an den Bettenden manchmal ziemlich voll. Da sitzen sie: groß, klein, weiß, schwarz, rot, leuchtend, wunderschön, majestätisch oder auch unauffällig, zurückhaltend, schüchtern. In Menschen- oder Tiergestalt. Engel in allen Farben und Formen, die man sich nur vorstellen kann. Der Engel, den ich meiner Mutter geschickt habe und der für gewöhnlich mich im richtigen Leben begleitet, ist strahlend weiß, riesengroß und hat ein gütiges Gesicht. Seine Flügel sind aus weißen Daunenfedern, die ich manchmal, wenn das Leben besonders hart und anstrengend ist, fühlen kann. Richtige Reinkuschelflügel eben. Ganz weich. Genau richtig für Mami für die Zeit vor, während und nach der Operation. Wenn er diese riesigen Flügel um jemanden legt und bewegt, leicht, nur ganz, ganz leicht, gleitet wärmende Energie in jede Zelle der Person, die er gerade beschützt. Jetzt eben in Mamis Körper.
Mami hat mehrere Engel. Vorsichtshalber. Wenn man genau hinsieht und ganz leise ist, kann man sie sehen. Neben dem großen Weißen sitzen ein paar Elfen. Sie wirken winzig und sind immer aufgeregt. Das ist bei Elfen normal. Sie kommen in Energieebenen, wo die anderen Wesenheiten nicht mehr hinkommen, weil sie so klein und wendig sind. Deshalb ist es immer gut, ein paar Elfen im Team zu haben. Und Mami liebt Tiere. Neben ihrem eigenen, eleganten und weisen Schutzengel, der sich ein wenig zurückhält und ganz in Nebel gehüllt am Fußende steht, hat sie also noch die Tierengel um sich herum. Drei Rotkehlchenengel sitzen auf dem Infusionsständer, ein Gänse- und ein Hühnerengel hocken schlafend unter dem Bett und der kleine Hundeengel liegt auf ihrem Bauch. Er ist wattebäuschchenfederleicht, aber trotzdem ein Energiebündel. Und bewegt sich in ihrem Atemrhythmus auf und ab. Sie atmet ganz flach. Er bewegt sich ganz leicht. Aber es ist alles in Ordnung. So sehr in zufriedener Ordnung, dass meine Engel sich ein kleines bisschen langweilen. Ab und zu fächeln sie ihrem Menschen ein wenig Energie zu, dann seufzt der kleine Hundeengel auf Mamis Bauch zufrieden und kuschelt sich auf der Decke enger an sie. Seine durchsichtigen Flügel liegen ganz sanft auf ihrer Hand mit der Infusionsnadel. Damit es nicht so weh tut. Er hat dieses ganz besonders enge Verhältnis zu ihr, deshalb darf er auch auf ihrem Bauch liegen. Das dürfen nur Tierengel mit einer wirklich besonderen Bedeutung. Tiere, die ihre Menschen im richtigen Leben schon einmal getroffen und berührt haben. Das richtige Leben ist übrigens dort, wo Menschen denken, dass sich alles abspielt, was es gibt. Sie nennen das Realität. Es ist ein bisschen so wie bei einem Radiosender. Die meisten Menschen empfangen nur auf einem Kanal und denken, es gibt keine anderen. Weil sie die nicht wahrnehmen. Gibt es aber doch. Und Tiere wissen das. Sie kennen die anderen Frequenzen. Genau wie die Engel, die Elfen und die übrigen Wesenheiten. Und manchmal kommt etwas durch. Dann erreichen die Engel die Menschen. In schwierigen Situationen ist es oft so. Da werden die Menschen ein bisschen durchlässiger für die anderen Schwingungen. Und die Engel mögen das. Alle. Denn dann können sie das tun, was sie am liebsten tun: unser Leben ein wenig freudvoller gestalten, uns behüten und helfen. Menschen wie Mami helfen sie besonders gerne, denn sie ist gutmütig, liebevoll und so mitfühlend, dass sie anderen Menschen und Tieren einfach gut tut. Und sie hat Fähigkeiten, von denen sie noch nicht einmal ahnt, dass sie sie hat. Sie könnte viel mehr aus diesen anderen Welten empfangen, weiß aber noch nicht, wie das geht. Also ist das eine echte Chance. Für Mami und ihre Engel. Aber im Augenblick ist alles in Ordnung. Die OP ist gut verlaufen und jetzt muss der Körper erst einmal heil werden. So lange heißt es warten. Der kleine Hundeengel dreht sich im Schlaf auf den Rücken und streckt alle Viere von sich. Er schnarcht ein klitzekleines bisschen. Aber einer seiner beiden Flügel liegt auch weiterhin auf Mamis Hand mit der Infusionsnadel. Die anderen Engel schauen kurz hin, die Elfen kichern und sirren auf und ab. Mein großer weißer Engel sendet einen winzigen, kitzelnden Energiestrahl zu der Engelhundenase. Er hört auf zu schnarchen. Für ein paar Sekunden jedenfalls. Mami geht es so gut, dass sie sich langweilen, meine Engel.
Wussten Sie, was Engel tun, wenn sie sich ein wenig langweilen und alles o.k. ist? Sie schauen erst einmal, wer noch so da ist von den Kollegen und ob es etwas zu helfen gibt an den anderen Betten. Wenn nicht, dann tun sie das, was die Menschen auch tun, wenn sie sich langweilen. Sie machen Unsinn. Liebevoll, weil Engel gute Wesen sind. Aber es bleibt Unsinn. Das sind dann die Momente, in denen uns Dinge passieren, die lustig, unlogisch oder vielleicht ein wenig ungeschickt sind. Da mag ein Mensch eine besonders schöne Muschel am Strand finden und kann nicht wissen, dass ein kichernder Engel sie ihm genau vor seine Füße geworfen hat. Ein anderer, weiblicher Mensch verliert im Wind seinen schicken Hut, der von einem männlichen Menschen aufgefangen wird und eine schöne Liebesgeschichte beginnt. Nur, weil ein Engel diesen Hut dem Kollegen zugeworfen hat. Alles längst geplant und verabredet. Jemand anders stolpert vielleicht im Flur über ein Spielzeug, dass Kinder liegen gelassen haben und findet dabei unter der Kommode Omas geliebte Brosche wieder, die sie so verzweifelt gesucht hat. Wieder ein anderer Mensch findet vielleicht einen Glückscent auf dem Parkplatz des Supermarktes und dann noch einen und noch einen und weiß, heute ist mein Glückstag. Und die Engel wippen vergnügt auf den Wolken hin und her und schütteln die Köpfe, weil doch jeder Tag voller Glück sein sollte. Nur haben wir Menschen das vergessen und weil wir durch jede Art von Glücksspiel so leicht zu erreichen sind, necken die Engel uns gerne damit. Oder ein Tier kommt ganz nahe und berührt einen Menschen. Mit dem Blick, dem Fell oder dem Herzen. Es spielt keine Rolle. Was zählt ist die Magie dieses Augenblicks. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir in solchen winzigen Momenten gar nicht in der Realität zu sein scheinen sondern irgendwo anders? Wenn Ihnen das nächste Mal etwas Ähnliches passiert, wissen Sie: die Engel spielen gerade ein wenig mit Ihnen, voller Licht und Liebe. Und wenn es ernst wird im Leben – rufen Sie Ihre Engel. Die freuen sich darauf und helfen. Garantiert. Bis es ein klitzekleines bisschen langweilig wird. Aber bis es soweit ist, werden sie Ihnen gut tun, die Engel. Bestimmt. Dafür sind Engel da. Irgendwie haben Sie das doch auch schon immer gewusst, oder?
Dies war eine Leseprobe aus: Das Kichern der Kirschlorbeeren