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Für Diva, verstorben 9. Juli 2017

Die leise grummelnde Aufregung in ihren Därmen nahm allmählich zu. Martha strich sich zum wiederholten Male den Rock glatt, der ohnehin schon wie frisch gestärkt saß. Wenn man genau hinsah, konnte man an den Stellen, die sie so oft glatt strich, bereits leichte Abnutzungserscheinungen erkennen. Sie hatte das selber schon registriert, es aber kichernd damit abgetan, dass die Jugendlichen ihre funkelnagelneuen Jeans derzeit im topmodischen, sogenannten „used-look“ trugen, was übersetzt so viel wie „gebraucht“ bedeutete. Wer wirklich modisch sein wollte, kaufte stylische Hosen mit Löchern und Flecken, die eigens mit einem Haufen Chemie oder sogar Steinen zusammen verwaschen wurden, damit sie nur ja nicht neu aussahen. Warum sollte also ein wenig Abnutzung nicht auch ein akzeptabler Trend für Lieblingsröcke älterer Damen sein? Und außerdem liebte Martha dieses Kleidungsstück, egal wie es aussah. Dieser Rock hatte in ihrem langen Leben schon so einiges mitgemacht und war ihr alleine deswegen ans Herz gewachsen.
Wieder strich sie ihn glatt, eine Bewegung, die jedes Mal von einem zart knisternden Geräusch begleitet wurde, das ihre Hände auf dem rauen Stoff verursachten, der gegen den feinen Unterrockstoff rieb. Martha lächelte. Das Geräusch beruhigte sie. Dabei gab es noch nicht einmal etwas, was wirklich beunruhigend gewesen wäre. Sie wartete lediglich auf den Boten der Konditorei, der die Törtchen für den Kaffeeklatsch mit den Freundinnen am Nachmittag bringen sollte. Aber es war dreizehn Uhr durch und Martha war müde.
Wenn sie müde war, wurde sie schnell nervös. Immer.
Sie pflegte nach dem Essen gerne etwas zu ruhen und eigentlich war es soweit.
Richtigerweise musste sie zugeben, es war genau jetzt Zeit für den Mittagsschlaf.
Jetzt.
Und keine Spur vom Konditoreiboten. Glattstreichen. Knistern. Beruhigender tiefer Atemzug.

Und auf einmal, gefühlte Stunden später, die in der Realität nur genau anderthalb Minuten gedauert hatten, läutete es. Martha eilte erfreut zur Tür ihrer geräumigen Wohnung, die im Erdgeschoss einer gepflegten Seniorenresidenz vor den Toren ihrer Heimatstadt Aachen lag und öffnete. Vor ihr stand der Kuchenbote mit einer jener typisch hochgestylten Geelfrisuren wie sie dieser Tage ebenso schwer in Mode waren wie die abgenutzt wirkenden neuen Hosen. Diese Frisur erinnerte sie sofort an Bilder aus ihren alten Geschichtsbüchern, Kapitel amerikanischen Geschichte. Ureinwohner. Indianer und ihre Stämme. Bei einem dieser Indianerstämme, den Irokesen, war es schon damals in Mode gewesen, einen Haarkamm in der Mitte des Kopfes zu tragen. Alle Haare waren Richtung Himmel gebürstet und irgendwie fixiert. Wie Hahnenkämme. Irokesenmode eben. Heutzutage neu aufgelegt, stylisch und ganz sicher schwer „in“.
In der Mode kehrte irgendwann alles wieder. Selbst Indianerhaarstyling. Martha hatte eine Schwäche für Mode, aber noch mehr für Geschichte und die Menschen in verschiedenen Kulturen und Epochen. Und ganz besonders für Indianer. Sie hatte alles, was damit zu tun hatte, stets mit prickelndem Interesse gelesen. Nicht nur, was in den Geschichtsbüchern über Indianer zu lesen gewesen war, nein, auch Karl May. Jeden Band.
Und nun stand er da, dieser junge Kuchenbotenindianer. Nichts war mehr wie früher, gar nichts. Nicht einmal die Haare der Boten. Aber immerhin trug der junge Mann vorsichtig das pralle Kuchenpaket vor sich her.
„Frau Heinrich?“ Und er lächelte sehr nett.
„How. Das bin ich, roter Bruder.“
Der junge Mann sah sie ein wenig befremdet an. Sein Lächeln wurde ein ganz klein bisschen künstlich. „Ich bringe Ihnen den bestellten Kuchen.“
„Das ist sehr nett von Ihnen, junger Mann,“ Martha schlug vorsichtshalber wieder ihren vernünftigen harmlose-nette-alte-Dame-Ton an, um nicht den Eindruck einer mittelschweren psychischen Erkrankung zu hinterlassen.

„Stellen Sie ihn bitte auf den Tisch in der Küche, ja? Ich zeige Ihnen, wo das ist.“
Und schon lief sie voraus. Ihrer Meinung nach lief sie. In Wahrheit bewegte sie sich langsam in Richtung Küche. Sehr, sehr langsam. So, wie es nun einmal normal war für eine alte Dame von achtundsiebzig Jahren mit Knochen- und Muskelproblemen.
Der Bote, der gut und gerne sechzig Jahre jünger war als sie, klebte ihr förmlich auf den Fersen wie ein Formel Eins Wagen dem anderen kurz vorm Überholmanöver. Er bewegte sich in einem Tempo, das seinem Alter angemessen war. Seine Realität hatte nicht viel mit der von Martha gemeinsam, aber das war an dieser Stelle keinem von beiden bewusst.
Martha wies mit der Hand auf den Tisch. Während der junge Mann das Paket dort abstellte, öffnete sie die obere rechte Tür des Küchenschrankes, in dem gleich neben der rosafarbenen Zuckerdose mit den weißen Punkten das Portemonnaie lag. Sie wollte dem jungen Indianer ein kleines Trinkgeld für seine Mühen geben. Gerade als sie einen Geldschein herausgezogen hatte und sich umdrehte, hatte der junge Mann offenbar den gleichen Impuls, aber er war viel schneller beim Umdrehen als Martha. Was zur Folge hatte, dass er mit seiner Schulter eine unheilvolle, unabsichtliche und ausgesprochen unangenehme Kettenreaktion auslöste:
Er traf die offene Tür des Küchenschrankes, diese prallte mit voller Wucht flach an den Hinterkopf von Martha Heinrich, die daraufhin wie in Zeitlupe zu Boden glitt. Den Geldschein ließ sie los, er segelte ähnlich einem Herbstlaubblatt gemächlich nach unten und blieb unter dem Sessel im Wohn-Essbereich vor der Küche liegen, während Martha selber, abgefangen von den Küchenunterschränken, regelrecht zu Boden geleitet wurde.
Dort saß sie nun.

“Oh,“ sagte sie nur. Der Kopf dröhnte, aber sie war geschmeidig zu Boden gegangen. Alles hatte nur drei Sekunden gedauert.
„Frau Heinrich, ach herrje, sind Sie o.k.? Es tut mir Leid. Ist alles mit Ihnen in Ordnung?“ Der junge Mann beugte sich sorgenvoll zu ihr herunter. Martha räusperte sich und blinzelte ihn an. „Ich glaube, es ist alles in Ordnung. Wenn Sie mir vielleicht hoch helfen würden? Dann könnte ich Ihre Frage genauer beantworten.“
„Klar, einen Augenblick bitte.“
Und schon stand sie wieder. Und strich sich erst einmal ihren Rock glatt.
Beruhigendes Knistern.
Der Indianer hatte gewaltige Kräfte. Gut, sie war zart gebaut, nur einen Meter fünfundsechzig groß und schlank. Aber dennoch. Er hatte sie so schnell wieder auf die Beine gestellt, dass sie es gar nicht richtig mitbekommen hatte. Gerade hatte sie noch am Fußboden gesessen, nun stand sie schon wieder. Die Zeit dazwischen hatte sie übersprungen, irgendwie.
Sie blinzelte ihn freundlich lächelnd an. „Also, ich habe ein bisschen Kopfschmerzen, aber sonst ist alles in Ordnung, denke ich.“
„Wirklich? Ich rufe Ihnen gerne einen Arzt und warte, wenn Sie nicht sicher sind.“
„Gütiger Himmel, nein, mein Junge, diese modernen Medizinmänner machen einen doch heutzutage nur krank, das lassen wir mal lieber. Es geht schon, machen Sie sich mal keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“ Rock glatt streichen. Knistergeräusch. Tief einatmen. „Ja, doch, es ist alles in bester Ordnung. Sie müssten sich bitte nur den Geldschein aufheben, den ich ihnen geben wollte. Er liegt dort gleich bei dem Sessel, in dem meine wundervolle kleine Hundefreundin Tessi sitzt. Das Geld möchte ich Ihnen als Trinkgeld mitgeben.“
Der junge Mann sah erst zu dem Sessel, irritiert zu Martha, dann auf den Geldschein am Boden, ein wenig verunsichert zu Martha zurück und dann wieder auf den Geldschein, ehe er ihn aufhob.
Die Irokesen waren von Natur aus ein sehr misstrauisches Volk. Das war immer schon so gewesen.

“Frau Heinrich, das sind zehn Euro. Das ist eine Menge Trinkgeld. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht wechseln soll?“
„Oh ja, ich bin ganz sicher, dass ist für Sie. Denn einerseits habe ich Ihnen nun auch noch Unannehmlichkeiten bereitet und andererseits können Sie es sicher gebrauchen. In Ihrem Alter kann man immer Geld gebrauchen. Aber nicht alles für Feuerwasser ausgeben, o.k.?“
„Ja, äh, ich meine nein. Sehr großzügig. Vielen Dank. Ich geh dann mal. Und Sie sind sicher, dass alles in Ordnung ist?“
„Ja, ja, keine Sorge. Gehen Sie nur. Und ziehen Sie bitte die Tür hinter sich zu, ja?“
„Ja, wird gemacht Frau Heinrich. Einen schönen Nachmittag noch.“
„Wünsche ich Ihnen auch, junger Mann. How, möge Manitu mit Ihnen sein.“ Ihre Stimme klang feierlich zum Abschied. Das musste sein. Wegen der Indianerehre.
Sie lauschte bis das Geräusch der ins Schloss fallenden Tür zu hören war, dann wandte sie sich lächelnd zu Tessi um. „Ach meine Süße, diese jungen Leute heute, das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben, dass man wie ein Indianer frisiert Kuchen liefern darf.“
Sie wandte sich um und griff nach der ersten Tasse, um das Kaffeegeschirr für ihren Besuch schon mal auf die Arbeitsfläche zu stellen.
„Frauchen, was genau bedeutet eigentlich dieses `zu meiner Zeit`? Gibt es denn für jeden Menschen eine eigene Zeit?“
Martha fuhr herum. Woher war diese Stimme gerade gekommen?

Sie sah sich im Raum um.
Sicher war der Indianer nicht wirklich gegangen. Jetzt tat er so, als spräche er durch Tessi. Ein ganz mieser, hinterlistiger Trick, den sie eher den Komantschen, einem Indianerstamm, den sie nie gemocht hatte, zugetraut hätte als den Irokesen.
„Wo verstecken Sie sich, junger Mann? Das ist ein ganz gemeiner Trick, den Sie da anwenden, um eine alte Dame verrückt zu machen. Los, kommen Sie aus Ihrem Versteck.“
Martha schnappte sich ein Küchenmesser und schlich in Richtung Tür. Den sofort einschießenden Schmerz, den dieses gebückte Anschleichen in ihrem Kreuz verursachte, versuchte sie zu ignorieren.
„Oh, Frauchen, ich bin es, Tessi. Hier aus dem Sessel. Sieh doch nur. Der junge Bursche ist wirklich gegangen, du hast doch gehört, wie die Tür ins Schloss gefallen ist.“
Martha drehte sich vorsichtig um. Und richtete sich auf. Was für eine Wohltat für ihren müden alten Rücken.
Tessi, ihre siebzehnjährige Jack Russelterrier Hundedame lag dort in dem Sessel wie immer. Sie war ebenfalls nicht mehr jung, aber körperlich fit, wenn auch die Schnauze und der ehemals schwarze Kopf schon seit langem ergraut waren. Die Vorderpfoten hingen von der Sitzfläche und der Schwanz wedelte aufgeregt. Ihre Ohren waren aufmerksam gespitzt und sie sah Martha mit ihren braunen Hundeaugen an. Der Blick dieses Tieres hatte schon immer ihre Seele berührt, hatte eine unsichtbare Verbindung zu Marthas Herzen hergestellt, die sie in dieser Intensität nie zuvor gespürt hatte. Lächelnd ließ sie das Messer sinken und sah das Tierchen an.

„Tessi? Du bist das wirklich? Ich meine, ich kann dich doch gar nicht verstehen. Ich bin ein Mensch und du ein Hund.“
„Macht nichts.“ Als Tessi das sagte, bewegte sie ihr Mäulchen genau so, wie Menschen ihre Münder bewegen, wenn sie sprechen. Martha schaute sie sprachlos an. Offenbar sprach Tessi fließend menschlich und hündisch zusammen, denn ihr Schwanz wedelte während sie sprach noch immer wie verrückt.
„Das muss daran liegen, dass ich mir gerade den Kopf gestoßen habe,“ murmelte Martha verwirrt und betastete die schmerzende Stelle, an der sicher sehr bald eine mordsmäßige Beule entstehen würde, „da gab es doch neulich diese interessante Sendung, in der Leute vorgestellt wurden, die seltsame Fähigkeiten entwickelt haben, nachdem sie Unfälle erlitten hatten.“ Vorsichtig sah sie zu Tessi hinüber. „Kann das sein, Tessi, ich meine, kann das an dem Schlag mit der Küchentür gelegen haben?“
„Klar. Es gibt nichts, was es nicht gibt, aber ihr Menschen glaubt doch sowieso nur das, was ihr wahrnehmen könnt. Und das ist nicht gerade viel.“
Martha meinte fast, das Tier würde sie angrinsen. Schnell strich sie sich den Rock glatt. „Weißt du was, meine Liebe? Ich werde mich jetzt ein wenig ausruhen. Danach sehen wir weiter. Magst du mitkommen?“
„Aber natürlich. Ich liebe es doch, mit dir auf dem Sofa zu kuscheln.“ Und schon sprang Tessi aus ihrem Sessel und schritt würdevoll ins Wohnzimmer, um dort so elegant wie möglich auf die Couch zu hüpfen. Erwartungsvoll sah sie Martha an, die ihr folgte und sich langsam auf dem Sofa niederließ. Nachdenklich blickte diese zu ihrem Hund hinab.

„Was denkst du, Frauchen?“ Tessi legte den Kopf schief.
„Ich denke gerade daran, dass ich dich ja nun eigentlich all die Dinge fragen könnte, die ich dich schon immer fragen wollte. Das ist unglaublich, ganz unglaublich. Ich beginne ganz allmählich, mir das klar zu machen. Ich muss mich an den Gedanken erst gewöhnen. Und wenn es noch immer so sein sollte, wenn ich ausgeschlafen habe, dann werde ich dir Löcher in den Bauch fragen. Aber nun muss ich nach all der Aufregung erst einmal ausruhen, meine liebe kleine Tessi. Gerade jetzt muss ich einfach schlafen. Ist halt so, wenn man älter wird, der Körper und seine unsäglich wenige Energie geben einem vor, was noch geht und was nicht, ist nicht einfach, aber da müssen wir alle durch. Allerdings ich bin schon jetzt ungeheuer gespannt, was du nachher alles zu berichten hast, das kannst du mir glauben.“
„Gut, ich freu mich auch schon drauf.“ Tessi nahm erwartungsvoll die Position ein, die sie immer innehatte, wenn die beiden ihren Mittagsschlaf hielten. Immer lag sie auf Höhe des zweiten dicken Polsters der Couch im rechten Arm von Martha, die es sich nun aber erst einmal bequem machen musste. Das dauerte eine gute Minute. Sie ließ sich zunächst rücklings in die Kissen sinken, nahm dann die dünne Decke hoch und zog die Beine eines nach dem anderen auf die Couch. Dann hob sie den rechten Arm und Tessi schlüpfte selig zu ihr und rollte sich an ihre Seite. Martha bedeckte sich und das kleine Tier mit der Decke. „Eines möchte ich aber doch gleich noch wissen, Tessi.“
„Und das wäre?“
„Hast du immer spüren können, wie sehr ich dich liebe? Das ist mir nämlich ganz wichtig.“ Martha sah erwartungsvoll in das kleine Hundegesicht, das dem ihren nun ganz nahe war. Tessi hob ihren Kopf, legte ihn an der Brust von Martha ab und sah sie an. Sah ihr ganz, ganz tief in die Augen. Mitten in die Seele.

„Vom ersten Moment, als du mich im Tierheim gesehen hast und du mich gegen den Willen deines Ehemannes unbedingt haben musstest. Ich habe es gewusst und immer gefühlt. Ich hatte dich doch gesucht und du ahnst gar nicht, wie froh ich war, als wir uns endlich gefunden hatten.“
„Dann ist es gut, Tessi, das ist das allerschönste, das ich das je von dir hören könnte. Alles andere musst du mir nachher in Ruhe erzählen. Ich muss dem verrückten jungen Mann ja dankbar sein. Diesen Irokesen hat wahrscheinlich der Himmel geschickt, der große Manitu, der Gott der Indianer, der Menschen und aller Tiere. Oder auch nicht, ist aber auch alles egal. Was ist das herrlich, dass wir nun mit einander reden können. Hoffentlich ist es gleich noch so, wenn wir wieder wach sind. Ich fühle mich wie ein Kind am Weihnachtsabend, ganz, ganz reich beschenkt, mein Tierchen. Leider bin ich aber ein Kind in Gestalt einer alten Frau von achtundsiebzig Lebensjahren und draußen ist auch nicht Dezember sondern herrlichster Hochsommer. Eigentlich spielt das aber auch alles keine Rolle, ich finde es nur wundervoll, dass ich mit dir reden kann, ganz, ganz herrlich.“
„Finde ich auch, außerdem bin ich doch ebenfalls eine alte Dame, schau dir doch nur meine graue Schnauze an. Und den schönen Sommertag genießen wir später noch. Sommer finde ich ohnehin besser als Winter und Weihnachten fand ich bisher immer lästig. Da muss ich dich mit so vielen anderen Leuten teilen, das mag ich nicht. So wie jetzt habe ich es am liebsten. Nur du und ich.“
Und schon rollte sich Tessi schmatzend wieder ein, allerdings nicht, ohne ihrem Frauchen zuvor noch einen schnellen Kuss auf die Hand gegeben zu haben. Beide schliefen unendlich glücklich ein. Für eine Weile sanken sie gemeinsam in die Welt der Träume und ließen die Welt draußen unbeachtet. Alles, was zählte, waren die Nähe und die Wärme zweier vertrauter Wesen.

Nach fast genau einer Stunde wurde Marthas Schlaf ein wenig unruhiger. Sie lächelte hinter ihren noch geschlossenen Lidern. Sie hatte sicher gerade nur geträumt, dass sie sich mit Tessi unterhalten konnte. Ein herrlicher Traum. Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah auf den Hund in ihrem Arm herab. Sofort kam Bewegung in die kleine Hündin. Wie auch immer sie die Veränderung ihres Frauchens wahrnahm, sie reagierte prompt und drehte den Kopf zu Martha. Das musste Telepathie oder so etwas sein. Sofort begann sie, mit dem Schwanz zu wedeln, genauer gesagt klopfte dieser rhythmisch gegen das Sofakissen.
Erwartungsvoll sahen sich die beiden an.
„Na Tessi, hast du gut geschlafen?“ Martha hielt den Atem an, als sie die Frage gestellt hatte. War es ein Traum oder würde der Hund jetzt tatsächlich antworten?
„Ja natürlich und nun hätte ich gerne meine Hundekekse.“
Martha kicherte wie ein Schulmädchen, ihr Herz machte einen enormen Freudenhüpfer, den sie zwar selber als ungewöhnlich heftig wahrnahm, dem sie wegen der herrlichen Aufregung aber keinerlei Bedeutung zumaß. Warum auch, was hier geschah waren Momente voller Magie, was war schon ein heftiger Herzstolperer dagegen.
„Oh Tessi, es ist kein Traum. Wie herrlich. Wir können miteinander reden. Wie wunder, wunder, wundertraumhaft schön.“ Überschwänglich drückte, küsste und beschmuste sie ihren Hund, der ihr vor Freude das Gesicht abschleckte. „Du bekommst deine Hundekekse sofort, meine Kleine. Ich mache mir einen Kaffe und dann geht es los.“
„Prima. Dieses kleine Nachmittagsritual liebe ich nämlich ganz besonders.“
Martha erhob sich langsam, Tessi streckte sich genüsslich und sprang von der Couch.
„Ich werde dir gleich die Terrassentür aufmachen, falls du mal hinaus musst.“ Die alte Dame öffnete die Tür und Tessi trabte elegant hinaus in das umzäunte Stück Garten, das zu der Wohnung gehörte, um dort ein kleines Geschäft zu erledigen. Sie schüttelte sich zufrieden, als sie wieder herein kam und lief zur Küche. Das Geräusch ihrer Pfoten auf dem Linoleum zauberte Martha ein Lächeln aufs Gesicht. Tessi kam zu ihr, setzte sich auf den Küchenboden und sah zu ihr auf.

„Wir bekommen nachher Besuch von Finny und Lehnchen. Magst du die beiden eigentlich?“
„Na, es geht so. Sie lieben Hunde beide nicht besonders, aber ich kann damit umgehen. Martha, du musst bitte daran denken, dass du die Einzige bist, die mich wahrnehmen kann. Deine Freundinnen haben nicht den leisesten Schimmer, was los ist. Ich sage dir das nur, damit sie nicht denken, du wärst auf einmal geistig verwirrt oder so.“
„Na danke, meine liebe Tessi. Aber den Eindruck habe ich mittlerweile längst selber von mir bekommen, bei all dem was ich inzwischen vergesse, verlege und durcheinanderbringe. Und nun spreche ich auch noch mit meinem Hund, das ist eindeutig weit weg von normal. Aber es ist herrlich, ganz, ganz herrlich.“ Martha stellte kichernd ihre Tasse und die Schale mit Hundekeksen auf ein Tablett. „Du hast natürlich Recht, ich hätte wahrscheinlich gar nicht daran gedacht, dass sie dich nicht verstehen können. So, nun komm aber, wir werden unseren Kaffee trinken und dann noch eine kleine Runde durch den Park spazieren gehen, ehe die beiden kommen.“
Ein wenig später spazierte Martha mit ihrer Tessi durch den sommerlichen Park, der die Seniorenresidenz umgab. Die schlimmste Nachmittagshitze war vorüber und so konnten sie es genießen, gemeinsam unterwegs zu sein. Seit sie älter geworden war, vertrug Martha Hitze nicht mehr, früher war ihr das egal gewesen. Aber wie so vieles hatte sich auch das mit dem Alter verändert. An diesem Nachmittag verschwendete sie allerdings keinen Gedanken an die unangenehmen Begleiterscheinungen des Alterns, viel zu sehr genoss sie es, sich mit Tessi auszutauschen. Sie konnte die Hündin ohne Leine laufen lassen, da das ältere Tier ruhig geworden war und sich eher gemächlich bewegte. Früher wäre das undenkbar gewesen, da war Tessi eine Draufgängerin gewesen, hatte an der Leine gezerrt und andere Hunde angekläfft, so, wie man es als echter Terrier einfach tun musste. Das aber war lange vorüber. Sie spazierten den schmalen, mit Kies bestreuten Weg entlang, der zum oberen Teil des Parks führte, in dem ein Teich angelegt war. Die Beete waren voller Rosen Lavendel und ihr Duft erschien Martha an diesem Tag besonders üppig. Lächelnd ging sie weiter. Der Weg mündete in eine große Rasenfläche, auf der Hunderte von Gänseblümchen wie weiße Tupfen in der Sonne leuchteten. Langsam schlenderte Martha zu den Bänken hinüber, die im Schatten ausladender Bäume standen und einen herrlichen Blick auf den Teich und die gesamte Wohnanlage ermöglichten.

Glücklich seufzend ließ sie sich nieder und sah nach Tessi, die intensiv auf der Wiese herumschnupperte. Mit gesenkter Nase lief sie dabei zügig hin und her, vielleicht war sie einem Kaninchen auf die Spur gekommen. Plötzlich sah sie auf, spitze die Ohren und hob ihr rechtes Vorderbein. Eine typische Aufmerksamkeitsgeste, die Martha lächeln ließ. Wie oft hatte sie die kleine Hündin so vertieft in ihre Jagd gesehen, hochkonzentriert und vollkommen mit sich und dem Spiel beschäftigt. Gottlob war es meist ein Spiel geblieben, aber hin und wieder hatte sie damals im heimischen Garten auch die ein oder andere erbarmungswürdige Maus oder auch schon mal einen jungen Vogel erwischt. Aber auch das war lange vorüber. Tief atmete Martha die wunderbare Sommerluft ein. Es roch nach Blumen, lauer Wärme und ein bisschen nach Erde. Sie hatte diese Jahreszeit stets geliebt, das Laufen ohne Strümpfe, das Angebot frischer Blumen, Obst und Gemüse auf den Märkten, all diese Düfte, diese verschwenderische Fülle der Natur und natürlich auch die Ferien mit den Kindern am Meer.
Ja, die Kinder.
Sie waren mittlerweile alle drei längst erwachsen. Susanne, Hartmut und Axel.
Sommererinnerungen zogen vorüber wie Fotos aus einem imaginären Album. Dankbarkeit erfüllte Marthas Herz und sie fühlte sich beinahe, als streichelten die Sonnenstrahlen zärtlich ihre Haut. Plötzlich saß Tessi zu ihren Füßen und sah sie erwartungsvoll an. Martha sah auf die Uhr. Viertel vor drei. Zeit für den Rückweg. Langsam erhob sie sich, nicht aber ohne vorher den Kopf ihrer Hundefreundin zu streicheln. „Komm Tessilein, wir gehen allmählich zurück, Finny und Lehnchen kommen in einer halben Stunde.“ Und so machten sie sich auf den Heimweg, Tessi schnupperte noch einmal hier und da und verschwand kurz unter den Rhododendronsträuchern am Haus. Martha, die voraus gegangen war, drehte sich lächelnd zu ihr um. Sie wartete bereits am Eingang, hielt die Tür geöffnet. „Tessilein, wo bist du?“
„Bin schon unterwegs.“
Martha kicherte vor Freude, als die Antwort aus den Büschen eher ertönte als Tessi erschien. Wie herrlich es doch war, mit dem eigenen Tier sprechen zu können. Es war und blieb ein Traum. Tessi trabte elegant auf sie zu.

„Sag mal, meine Süße, geht die Fähigkeit, dich zu verstehen, eigentlich irgendwann auch wieder verloren? Das wäre schrecklich.“
„Nein Frauchen, keine Sorge, das bleibt so bis ans Ende unserer Zeit. Und du wirst es später verstehen.“ Wissend sah Tessi ihr Frauchen an.
„Ach wirklich? Du kannst es mir jetzt aber noch nicht sagen, oder?“
„Nein.“
„Aha, na gut. Ist aber auch egal, sehr neugierig bin ich noch nie gewesen. Ich genieße es einfach.“
„Und weißt du was? Ich auch. Sehr sogar.“
Und schon trabte Tessi durch die Tür in Richtung Eingangshalle. Martha folgte ihr lachend, sah noch kurz in ihrem Postfach nach und endlich kehrten sie zurück in die Wohnung, wo sie fröhlich summend den Kaffeetisch für die Freundinnen herrichtete.
Sie deckte ihr bestes Service mit den Streublümchen, drehte feine weiße Leinenservietten, die noch aus der Aussteuer ihrer eigenen Mutter stammten, behutsam in silberne Serviettenringe und stellte eine Vase mit Blumen auf den Tisch. Das ganze sah nun mehr nach einer Tafel aus, aber für Martha war der Tag ja auch ein Fest, dieser wunderbare Sommertag, an dem sie auf einmal mit ihrem Hund reden konnte, so unglaublich das auch war. Ein Wunder, einfach ein herrliches kleines Wunder. Entsprechend wollte sie das auch feiern, es war nebensächlich, dass sie ihre Freundinnen nicht einweihen konnte, die Tatsache an sich war ein persönliches kleines Fest wert.
Martha nahm sich vor, am Abend, wenn die Freundinnen längst wieder gegangen sein würden, die letzte Flasche edlen Champagners, die sie noch aus ihren Ehezeiten besaß, zu öffnen. Sie hatte ihn zusammen mit ihrem Mann Walter während einer ihrer Urlaube in Frankreich erstanden. Sie hatten in einem hochherrschaftlichen Schlosshotel gewohnt und jeden Tag herrliche Ausflüge in die Umgebung unternommen. Und Wein und Champagner gekauft. Viele Kisten waren es damals gewesen. Bestimmt zwanzig Jahre war das her. Nun war genau noch diese eine Flasche übrig, die Martha sorgfältig aufgehoben hatte.
Für etwas ganz besonders Besonderes, hatte sie sich immer gesagt.
Einen besseren Anlass als den heutigen würde es allerdings nie wieder in ihrem Leben geben. Das war mehr als etwas ganz besonders Besonderes, das war eindeutig die Krönung ihres Zusammenlebens mit Tessi. Und ein klein wenig Magie war auch dabei.
Martha lächelte die ganze Zeit vor sich hin und summte eine fröhliche Melodie, während sie den Tisch fertig deckte, Kaffe aufsetzte und die Törtchen auf einer feinen Porzellanplatte anrichtete.
Tessi hatte es sich nach dem Spaziergang in ihrem Lieblingssessel am Fenster bequem gemacht und döste ein wenig vor sich hin. Als es klingelte, schossen ihre Ohren in die Höhe, sie blieb aber liegen.

„Ich komme schon, einen Augenblick bitte.“ Rief Martha und ging zur Tür. Sie war sich sicher, dass Lehnchen die Erste sein würde, die zum Kaffe erschien. Sie war schon immer die Pünktlichere der beiden Freundinnen gewesen. Und sie behielt Recht. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, sah sie in Lehnchens mütterlich rundes Gesicht.
„Grüße dich, meine liebe Martha, gut siehst du aus. Richtig strahlend.“ Und schon drückte Lehnchen die Freundin eng an sich.
„Ich grüße dich auch, meine Liebe und vielen Dank. Du siehst aber auch gut aus. Komm doch bitte herein.“
„Du lügst, Frauchen. Sie ist unvorteilhaft gekleidet, unattraktiv, dick und müsste dringend mal wieder zum Frisör.“
Martha räusperte sich laut, als diese Worte aus dem Wohnzimmer an ihre Ohren drangen. Lehnchen hingegen strahlte. „Oh ja, mach ich gerne. Ich freu mich schon auf den Kuchen. Heute Mittag habe ich extra weniger zu Mittag gegessen. Ach Martha, entschuldige, beinahe hätte ich die Blumen vergessen.“ Sie nahm vorsichtig das Papier von dem Strauss, den sie in der Hand trug und reichte ihn der Freundin.
„Entzückend, Lehnchen, rosarote Freilandrosen mit ganz dicken Köpfen. Meine Lieblingsblumen.“
„Weiß ich doch.“
„Das Lehnchen will sich doch nur einschleimen, damit sie ein Törtchen mehr kriegt. Fall bloß nicht drauf herein. Und sie hat garantiert nicht weniger gegessen, heute Mittag. Das ich eine glatte Lüge.“
Empört fuhr Martha herum und warf ihrem Hund einen bösen Blick zu.
„Stimmt etwas nicht, Martha?“ Lehnchen war die abrupte Bewegung der Freundin nicht entgangen.
„Nein, ja, ich meine, also nein. Oh nein, alles bestens. Ich dachte nur gerade, ich nehme eine andere Vase und stell deine Blumen auf den Tisch. Sie sind wunderschön. Dann nehme ich den Strauss, der jetzt dort steht weg. Daran habe ich gerade gedacht. Sonst gar nichts. Gar nichts weiter. Ich mache es so. Jetzt gleich. Mach es dir doch schon einmal bequem, ja?“
„Ja ja, lass dir nur Zeit.“

Martha schritt drohend langsam an Tessis Sessel vorbei und warf ihr abermals einen mahnenden Blick zu, der allerdings kaum Wirkung zeigte, denn das Tier drehte sich demonstrativ auf den Rücken, schmatzte zufrieden und streckte alle Viere in die Luft.
„Ach, Frauchen? Lehnchen hat ganz schön zugenommen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, finde ich.“
Martha, die angestrengt versuchte, nicht auf Tessi zu reagieren, um nicht völlig verwirrt zu wirken, kicherte. Schnell steckte sie ihren Kopf in den Schrank, in dem die Vasen standen.
„So, ich nehme diese Vase. Sehr hübsch, doch wirklich.“ Sie räusperte sich unnötig laut, erhob sich und ging in die Küche, um Wasser ein zu füllen. Wie um Himmels Willen sollte sie nur den ganzen Nachmittag überstehen, wenn Tessi weiterhin solche Kommentare abgab? Sie, nur sie alleine konnte das hören, das grenzte schon ein wenig an Wahnsinn. Allerdings auf eine sehr spaßige Art, wie Martha fand.
„Du wirst das eh nicht durchhalten, nicht auf mich zu reagieren, das verspreche ich dir schon jetzt. Warte nur, das wird lustig.“
„Tessiiiii, lass das. Bitte.“ Martha zischte ganz leise, aber nicht leise genug, um Lehnchen nicht doch zu irritieren.
„Was hast du gesagt, Liebes? Ist wirklich alles in Ordnung oder kann ich dir helfen?“
„Lehnchen, wie entzückend, aber es ist alles bestens. Ich habe da so eine dumme Angewohnheit entwickelt, ich rede manchmal laut mit mir. Da musst du dir nichts denken.“
„Kenne ich, mache ich auch schon mal. Kommt mit dem Alter und dem Alleinsein, glaube ich.“ Lehnchen nickte zustimmend. Gerade in diesem Moment klingelte es erneut. Finny kündigte sich an.
„Könntest du bitte aufmachen, Lehnchen? Ich hole dann schon mal den Kaffee.“ Die Ablenkung war Martha mehr als willkommen.
„Mach ich.“

Martha drehte sich zu Tessi herum. „Bitte, lass das, meine Liebe. Meine Freundinnen werden noch denken, ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, wenn ich ganz unmotiviert loskichern muss. Das geht doch nicht.“
„Mal sehen.“ Die Hündin drehte sich wieder auf den Bauch und sah schwanzwedelnd zu ihrem Frauchen auf. Martha war, als grinse sie. Sie schien ganz eindeutig Spaß an der Situation zu haben. Kopfschüttelnd, insgeheim aber doch schmunzelnd, ging sie in den Flur, um Finny zu begrüßen. Diese war das ganze Gegenteil der korpulenten mütterlichen Lehne, groß und hager, hatte oft Magenprobleme und eine sensible Verdauung, auf die sie ständig achten musste. Sie war Lehrerin, später Oberstudienrätin und dann Schuldirektorin gewesen und Martha fragte sich insgeheim, wie viele Kollegen und auch Schüler wohl Angst vor ihr gehabt haben mussten.
„Meine liebe Martha, schön dich zu sehen. Du siehst ja blendend aus. Komm her, lass dich umarmen.“ Sie war zwar äußerlich dürr, in ihrem Herzen aber gab es beinahe unendlich viel Raum für die, die sie liebte. Und ihre Freundinnen liebte sie über alles.
„Ich grüße dich, Finny, schön, dass du da bist. Geht es dir gut?“
„Ja, so drei bis sieben, würde ich sagen. Durchwachsen, aber lass uns nicht davon anfangen.“ Sie wickelte ebenfalls einen Strauss aus dem Papier, auch sie hatte sich für Rosen entschieden, allerdings in hellem gelb. Martha strahlte.
„Oh vielen Dank, meine Liebe. Nun habe ich schon wieder so wundervolle Rosen. Schau nur, von Lehnchen habe ich rosefarbene. Ich werde deine jetzt noch eben in die Vase stellen, dann schenke ich den Kaffee ein. Nimm nur schon Platz.“
„Da hast doch auch an den magenfreundlichen Kaffee gedacht, nicht wahr?“
„Ich hätte drauf wetten können, dass sie das fragt.“ Raunte es aus dem Sessel am Fenster.
„Ja sicher, ich kenn dich doch und ich möchte, dass du den Kaffee verträgst.“ Martha versorgte lächelnd den zweiten Strauß Blumen, während die Freundinnen Platz nahmen. Sie gesellte sich zu ihnen, goss Kaffee ein, magenfreundlichen aus der kleinen Kanne mit dem Streublümchenmuster für Finny, starken Kaffee für Lehnchen und sich selber aus der größeren Kanne mit dem Goldrand. Diese Art von Kaffeekannen war mittlerweile gänzlich aus der Mode geraten, aber selbst im Zeitalter der Pad-und Kapsel-Maschinen legten die Freundinnen Wert darauf. Jede von ihnen besaß sie noch, diese alten Kannen mit den geschwungenen Henkeln und hübsch geformten Bäuchen, Deckeln und Hälsen. Immer, wenn sie sich gegenseitig zum Kaffee einluden, wurde dieser handgefiltert in genau jene alten Kannen gefüllt. Das war Teil des Rituals, das sie alle drei teilten und liebten. Nachdem nun der Kaffee eingeschenkt war, verteilte Martha die Obsttörtchen, die üppig mit duftenden Erdbeeren, Pfirsich- und Kiwistücken belegt waren, auf den Tellern. Der Kuchen erinnerte sie an den Irokesenboten. Und der an ihre neue Fähigkeit. Sie hob ihre Kaffeetasse und sah die Freundinnen an.

„Auch wenn das nur Kaffee ist, ich würde gerne einen Toast auf meine kleine Tessi aussprechen.“ Ihr Blick glitt liebevoll zum Sessel am Fenster. „Mir ist einfach danach und ich hoffe, es ist in Ordnung für euch. Ihr zwei seid meine besten Freundinnen in Menschengestalt und Tessi ist es als Tier.“ Strahlend sah sie Lehnchen und Finny an, die eine nach der anderen erst zum Sessel blickten und sich dann einen leicht besorgten Blick zuwarfen.
Martha registrierte das nicht, zufrieden trank sie einen Schluck Kaffee, leicht schlürfend, mit abgespreiztem kleinen Finger. Tessi legte verlegen eine Pfote über ihre Augen.
„Ich mag so etwas nicht, das weißt du doch,“ maulte sie leise und vorwurfsvoll.
„Sicher, meine Liebe, das tun wir gerne,“ Finny spitzte ihre Lippe und trank, es wirkte ein wenig gestelzt, „es ist nur so, dass ich persönlich ja nicht so viel mit Tieren anfangen kann, weil ich nie selber welche hatte. Das weißt du ja nun schon seit Langem, liebe Martha und ich weiß, dass du es mir nicht übel nimmst.“
„Wissen wir alle schon, nichts Neues, du dünnes Hemd. Frauchen, wenn wir ihr eine dunkle, hoch aufgebauschte Perücke aufsetzen und sie ein wenig umstylen, sieht sie aus wie diese junge Musikerin, von der deine Enkelin neulich erzählt hat. Die mittlerweile verstorbene Sängerin mit den ewigen Alkohol- und Drogenproblemen. Wie hieß sie noch? Amy Winehouse? Sie hat dir doch Bilder auf ihrem Computer gezeigt, erinnerst du dich?“
Martha prustet völlig unerwartet und gänzlich unpassend los. „Oh, entschuldigt. Äh, ich habe mir gerade vorgestellt, wie du, liebe Finny, mit drei Mopshunden am Abend auf dem Sofa sitzt und liest.“
Nun lachten Lehnchen und Finny ebenfalls. Eine wunderbare Vorstellung, aber eine glatte Notlüge, um Tessis Bemerkung zu überspielen. Lehnchen sah Martha liebevoll an.

„Weißt du, es spielt doch eigentlich keine Rolle, ob man nun eine besondere Beziehung zu einem Tier oder zu einem Menschen hat. Finde ich jedenfalls. Wir sind doch alle Lebewesen. Und du, Finny, hast Menschen gegenüber, die dir etwas bedeuten, ein besonders großes Herz. Wärst du mit Tieren aufgewachsen oder hättest du später eine Beziehung zu ihnen aufbauen können, würdest du sie heute genauso in dein Herz geschlossen haben wie Martha ihre Tessi.“
„Ein Dobermann hätte ihr ziemlich gut gestanden, finde ich. In jeder Hinsicht.“ Tessi wedelte erfreut mit dem Schwanz. Ihr eigener Einwand amüsierte sie selber. Martha versuchte krampfhaft, nicht auf sie zu hören.
„Da hast du sicher Recht.“ Finny nickte ihr bedeutsames Oberstudienrätinnennicken. Dazu gehörte immer ein schräg gelegter Kopf. Und auf jeden Fall hochgezogene Augenbrauen bei gesenktem Blick.
„Paß auf, jetzt sagt sie gleich; es ist doch so…“ Tessi beobachtete die Szene aufmerksam von ihrem Sessel aus.
„Es ist doch so,“ begann Finny tatsächlich und Martha tat hüstelnd so, als habe sie sich verschluckt, „es ist doch so, dass unsere Erfahrungen uns prägen. Sicher bin ich nicht mit Tieren groß geworden, wie du auf dem Bauernhof deiner Eltern, Martha. Ich bin ja nicht einmal mit einem Vater groß geworden, weil der nie aus dem Krieg zurückgekehrt ist.“
Und auf einmal kicherte sie zum Erstaunen der Freundinnen vollkommen unpassend. „Das war wahrscheinlich die Ursache dafür, dass ich eine uneheliche Tochter habe und niemals geheiratet habe. Ich habe auch keine Erfahrung im Umgang mit Männern sammeln können.“
„Finny!“ Lehnchen sah sie strafend an.
„Na ja stimmt doch. Ich habe da ganz eindeutig etwas verpasst. Also weiß ich nicht, wie man mit Tieren richtig umgeht und mit Männern geht mir das genauso. Hast du eigentlich noch von dem leckeren Portwein, den wir beim letzten Mal getrunken haben, Martha? Mir wäre genau jetzt nach einem Glas.“

„Das kann ich mir denken. Das Thema ist doch sehr unterhaltsam. Schenk ihr schnell ein, Frauchen, dann erzählt sie sicher noch mehr. Herrlich, sie kann weder mit Tieren umgehen noch Menschenmännchen artgerecht halten.“
„Aber sicher. Warte, ich hole die Flasche.“ Martha sprang für ihre Verhältnisse schon beinahe auf, eilte in die Küche, kicherte erst einmal vor sich hin und kehrte nach wenigen Minuten mit drei kleinen Sherrygläsern und der Flasche zurück. „Du auch, Lehnchen?“
„Ja bitte. Und ich nehme noch ein Törtchen, wenn es nichts ausmacht.“
„Nein, es macht nichts aus. Nur dick. Und das bist du ja schon.“
„Hm, gerne Lehnchen, greif nur zu.“ Martha warf einen mahnenden Blick in Tessis Richtung, während sie den Portwein einschenkte. Finny war die erste, die einen großen Schluck nahm. „Oh, entschuldigt bitte, aber das habe ich gebraucht.“ Leicht zerknirscht sah sie in die Runde, die Freundinnen lächelten verständnisvoll. Alle drei hoben nun ihre Gläser und sahen sich an. Beinahe war die Szene ein wenig feierlich, als sie sich zuprosteten und tranken.
„Sag mal, ist es dir nicht doch irgendwie schwer gefallen, so ganz ohne Ehemann durchs Leben zu gehen, Finny?“ Lehnchen sah die Freundin fragend an.
„Naja, es hat schon Zeiten gegeben, da hat mir ein Partner sehr gefehlt, ich war ja immerhin alleinerziehend mit einer unehelichen Tochter. Und das war damals nicht die Regel so wie heute, im Gegenteil, wisst ihr ja. Ich wurde ganz schön ausgegrenzt und war froh, euch beide als Freundinnen zu haben. Ich habe schon so manches Mal in meinem stillen Kämmerlein gesessen und geheult. Aber dafür habe ich mich eben in den Beruf gestürzt und das hat mich dann sehr ausgefüllt. Wisst ihr auch. Die ein- oder andere Affäre hatte ich später dann schon noch,“ schloss sie Augenzwinkernd an, „aber darunter war niemand, mit dem ich wirklich hätte mein Leben teilen mögen. Und so ist es gut, wie es ist. Ich bin eigentlich sehr zufrieden. Und meine Tochter Greta kümmert sich auch rührend um mich, also habe ich keinen Grund zum Meckern.“ Erneut hob sie ihr Glas und trank einen großen Schluck Sherry.


„Auf die Kinder, die halten wenigstens zu uns.“ Martha sah lächelnd in die Runde.
„Ja, auf unsere wunderbaren Kinder.“ Pflichtete Lehnchen bei.
Drei Gläser stießen abermals leise klirrend aneinander, für ein paar Sekunden herrschte genüssliche Stille.
„Martha, sag mal, solltest du dir nicht mal allmählich eingestehen, dass das, was du gerade gesagt hast, nur für zwei von deinen drei Kindern gilt?“ Ein liebevoller Hundeblick aus braunen Augen traf Martha mitten ins Mark, Tränen schossen ihr in die Augen und rollten in feinen dünnen Bächen über ihre Wangen, einfach so, auf einmal. Sie war machtlos dagegen. Tessi sprach ihr schlimmstes Geheimnis, ihren größten Kummer an. Nie, aber auch niemals hatte sie den Freundinnen davon erzählt, wie sehr sie darunter litt, dass ihr jüngster Sohn Axel, der unverheiratet in Brüssel lebte, sich so selten bei ihr sehen ließ.
„Oh mein Gott, Martha, warum weinst du jetzt?“ Lehnchen fiel als erste auf, das die Freundin sehr emotional reagierte. Martha war für eine Sekunde versucht, den Freundinnen auch diesmal eine Lüge aufzutischen, irgendetwas hielt sie aber davon ab. Sie entschied sich anders, dieser Tag war ein besonders Besonderer, ein Champagnertag, vielleicht war es auch der richtige Tag, diese Lebenslüge endlich einmal anzusprechen.
„Wisst ihr, was ich gerade gesagt habe, dass die Kinder zu uns halten, das stimmt in meinem Fall so nicht ganz. Ich habe nie darüber gesprochen. Aber es macht mir unglaublichen Kummer, dass mein Axel so gut wie nie vorbei kommt. Ich habe ja Susanne und Hartmut, die sich mit ihren Ehepartnern und Familien rührend um mich kümmern, aber es macht mir trotzdem etwas aus, dass Axel das nicht tut. Und Tessi hat mich einfach gerade dran erinnert.“

„Oh Martha, das wussten wir ja gar nicht, wie furchtbar!“ Finny drückte ihre Serviette vor den Mund, sie sah direkt ein bisschen blass aus. Schnell schüttete sie den Rest ihres Portweins hinunter. „Du hast ihn immer verteidigt, er hat ja auch sehr viel zu tun als Architekt.“
„Ach Unsinn, Lehnchen, er lebt in Brüssel, das ist von Aachen aus nur wenig mehr als eine Stunde mit dem Auto entfernt, das weißt du so gut wie ich. Ihm ist das offenbar einfach nicht wichtig, mich regelmäßig zu besuchen, verstehst du? Er ist ja oft auch noch unsensibel genug, mir am Telefon zu erzählen, mit wem er mal wieder weg gegangen ist oder wofür er Zeit hat. Wenn er dann mal anruft. Er macht sich einfach keine Gedanken über meine Situation, entweder will er das nicht oder er kann es nicht. Und ich habe ihn lange entschuldigt, aber es bricht mir das Herz. Gerade mit ihm habe ich mir besondere Mühe gegeben, er war ein schwieriges Kind, schnappte schnell ein wegen Kleinigkeiten ein und war dann ewig beleidigt, brauchte enorme Zuwendung, konnte aber gleichzeitig wenig Kritik ertragen und gab selten etwas zurück. Mich wundert gar nicht, dass er keine gute Ehe oder wenigstens eine dauerhafte Beziehung hinbekommt, wenn ich ehrlich bin. Er hat eine ganze Menge schwieriger Sachen mitbekommen in seinem Charakter, von allen möglichen Verwandten entdecke ich da etwas. Er ist wohl leider ein wenig egoistisch geraten und lässt sich zudem leicht Dinge einreden, an die er glauben möchte, weil sie sein Leben bequemer machen oder weil er auf diese Art irgendeine Schuld weit von sich schieben kann und die Verantwortung für sein Handeln nicht übernehmen muss. Irgendwann hat er mir mal erzählt, dass er beim Therapeuten war und seither ist er kaum noch gekommen. Es würde mich nicht wundern, wenn er sich da komische Dinge hat einreden lassen, dass ich ihn nicht lieben würde oder weiß Gott was mit ihm angestellt habe.“ Martha seufzte. “Anfangs hatte ich großes Verständnis für seine Arbeit und dass er so viel zu tun hatte. Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht für ihn freue, wenn es ihm gut geht. Man will doch, dass die Kinder selbständig werden und ihr eigenes Leben leben. Aber so ganz vergessen zu werden, so gänzlich unbeachtet zu sein ohne eine ehrliche Erklärung, das tut dann doch weh. Dabei würde ich mich einfach nur freuen, wenn er auch ein bisschen an meinem Leben teilhaben würde, aber für ihn funktioniert es immer nur umgekehrt, alles muss sich um ihn drehen. Das ist einfach sehr, sehr schade.“

Martha schüttelte traurig den Kopf. Sie kämpfte mit den Tränen. Tessi hingegen wedelte mit dem Schwanz.
„Glückwunsch Frauchen, jetzt hast du es endlich mal angesprochen. Das wird dir gut tun, den anderen übrigens auch. Wirst du gleich erleben.“
„Martha, das rührt mich sehr an, was du da gerade erzählst, ehrlich.“ Finny hatte ebenfalls Tränen in den Augen.
„Es tut aber wirklich sehr gut, es endlich einmal zu erzählen. Ich habe euch da lange etwas vorgemacht. Das möchte ich einfach nicht mehr.“ Martha griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. Die Runde schwieg für eine kleine Weile, ab und zu nippte eine der drei Damen an ihrem Kaffee oder dem Portwein. Es war jenes Schweigen unter Freundinnen, das seelenwärmendes Verständnis verbreitete, in dem jede der Drei sich zunächst einmal sammeln und ihre durcheinander wirbelnden Gefühle ordnen konnte, ohne dass die anderen es falsch verstanden hätten.
Die drei Frauen kannten sich beinahe ein ganzes Leben lang, hatten Höhen und Tiefen miteinander erlebt, Freuden, Erfolge und Glück gemeinsam bejubelt und Tränen zusammen geweint. Und dennoch gab es Dinge, die so lange im Verborgenen gewesen waren. Und nun, da eine dieser gut behüteten und lange versteckten Wahrheiten endlich ans Tageslicht kam, fühlte es sich beinahe so an, als habe man einen Schatz gehoben, den Schatz von erleichternder Ehrlichkeit. Kein Grund mehr für mühsam aufrecht zu erhaltene Lebensnotlügen aus Scham und Schuldgefühlen sondern pralle reife freundschaftliche Ehrlichkeit, für die es offenbar nur einen einzigen Grund gab, etwas besonders Besonderes lag an diesem Tag in der Luft.
Tessi hatte die Szene mit gespitzten Ohren von ihrem Sessel aus verfolgt und wagte kaum zu atmen. Da sie die merkwürdige menschliche Vorstellung von Moral eh nicht nachvollziehen konnte, hatte sie auch die belastenden Notlügen, die ihr Frauchen immer wieder so benutzte, wenn es um die Beziehung zu ihrem Sohn ging, nie verstehen können. Und nun war es endlich soweit, Martha gab diese Lüge auf. Herrlich! Sie freute sich schon darauf, wie die beiden Menschenfreundinnen nun reagieren würden. Diese tauchten allmählich wieder aus den Tiefen der eigenen Gedanken auf und sahen einander berührt an. Dann folgten drei verschiedene Arten des Räusperns, gefolgt von dreimal Naseputzen und Augentupfen.

„Nun, wenn du uns gegenüber so ehrlich bist, möchte ich auch etwas sagen.“ Finny tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und warf den beiden Freundinnen einen kurzen, beinahe verschämt wirkenden Blick zu. Martha schenkte ihr reflexartig ein zweites Glas Portwein ein, Lehnchen ließ ihre Gabel sinken, die sie gerade wieder angesetzt hatte, um sich an ihrem zweiten Törtchen zu stärken.
„Ich habe ja nun nur meine einzige Tochter, Greta, die Lehrerin, von der ich gerade gesprochen habe. Wisst ihr ja, ihr kennt sie.“ Eine winzige Pause entstand. „Ich nenne sie heimlich immer mein geliebtes Tochterbiest, weil sie so bestimmend ist.“ An dieser Stelle kicherte Finny und die beiden anderen stimmten mit ein, wahrscheinlich, weil das die Spannung, die in der Luft lag, so herrlich zu lösen vermochte. „Das ist aber noch nicht alles, ich kann gut mit ihrer Art umgehen, sie ist halt so und auf der anderen Seite tut sie unendlich viel für mich. Habe ich ja auch gerade schon erwähnt. Ich liebe sie sehr.“ Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einem noch tieferen Seufzer schloss sich an. „Aber da gibt es auch etwas, das ich nie erwähnt habe.“ Nacheinander sah sie die Freundinnen an, denen der Atem stockte, denn in Finnys Blick lag etwas Eigenartiges, Fremdes. „Ich habe euch doch immer erzählt, dass ihr Vater mein damaliger Chef war, der Direktor meiner ersten Schule in Dortmund, an der ich nach dem Studium tätig war.“

„Stimmt, der Herr Direktor Schrammer, den wir ja leider nicht kennenlernen konnten, weil er nach Norddeutschland versetzt wurde und dann in diesem schrecklichen Unfall ums Leben kam.“ Lehnchen nickte. Ihre Wangen glühten ein wenig.
„Oh ich ahne schon, was jetzt kommt. Das ist ja klasse heute hier bei eurem Kaffeeklatsch. Besser als Schnüffeln an fremden Laternen und häufig frequentierten Hydranten.“ Tessis Schanz klopfe vor Freude gegen die Sessellehne.
„Also, also, was soll ich sagen. Das stimmt gar nicht.“
„WAS?“
„Donner noch eins, wie sollen wir denn das verstehen?“
Finny sah die beiden an. „Es gab nie einen Direktor Schrammer. Er hatte auch keinen Unfall. Es hat ihn einfach nie gegeben. Ich habe ihn erfunden, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen.“
„Bitte?“
„Was sagst du da?“
Martha und Lehnchen sahen einander ungläubig an. Ihre Augen waren aufgerissen und ihre Unterkiefer tief nach unten gesackt. So wie die beiden alten Damen da saßen, ähnelte ihr Gesichtsausdruck jenem von erschrockenen Äffchen im Zoo, die völlig unerwarteterweise einen Fressfeind im eigenen Gehege gesichtet hatten und nun jede Minute mit wildem Gekreisch reagieren würden. Aber hier an der Kaffeetafel blieb es still. Keine Affen, kein Fressfeind, nur schonungslose Ehrlichkeit unter Freundinnen, die im Begriff waren, sich gegenseitig die tiefsten Geheimnisse ihrer jeweiligen Leben zu beichten.
Es herrschte absolute Stille.
Mucksmäuschenstille.
Selbst Tessi hielt den Atem an.

„Es hat nie einen Herrn Schrammer gegeben, deshalb konntet ihr ihn auch nicht kennen lernen. Denn Gretas Vater ist der gute alte Doktor Müllejan, Gott hab ihn selig, der Hausarzt meiner Familie, den ihr sehr gut gekannt habt und der gut und gerne fünfundzwanzig Jahre älter war als ich. Mit ihm hatte ich über längere Zeit eine Affäre, die wir trotz meiner Schwangerschaft aus Vernunftgründen beendet haben. Aber ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich keinen anderen Mann mehr haben wollte. Die anderen, also diese Affären, die ich später noch hatte, konnten ihm einfach nicht das Wasser reichen. Er war wunderbar und es gab keinen Zweiten wie ihn.“
Die Stille hielt noch an. Aber immerhin klappten hörbar zwei Unterkiefer wieder hoch. Ein paar Hüsterchen und Räusperer folgten, die darauf schließen ließen, dass man sich sammelte.
„Finny, Sau-As, das hätte ich nie gedacht.“ Martha benutzte einen urtypischen Aachener Begriff, um ihrem Erstaunen angemessen Ausdruck zu verleihen. Finny hingegen kicherte.
Eine geschlagene Weile schüttelten Martha und Lehne wie die alten Wackeldackel auf den Hutablagen noch älterer Autos einfach nur ihre Köpfe. Sie tranken still und verdauten so die unfassbaren Neuigkeiten. Die Schlucke an Portwein und Kaffee fielen bei weitem schon nicht mehr so dezent aus wie zuvor und die Gesichter begannen als Folge davon, leicht zu glühen. Nur Finny lächelte die ganze Zeit, sah von einer zur anderen und begann nach einer nun länger ausgefallenen Weile wieder zu sprechen.
„Herrlich, ihr Lieben. Mir geht es jetzt gerade so wie dir eben, Martha. Ich fühle mich blendend. Hätte ich nie für möglich gehalten, dass das Aussprechen von derartigen Lebenslügen so erleichternd sein kann. Danke dir Martha, dass du damit angefangen hast. Ich fühle mich wie von Zentnerlasten befreit.“ Sie erhob ihr Glas. „Ich möchte auf die Freundschaft trinken. Das ist doch wirklich das Schönste und nun wissen wir selbst die tiefsten Geheimnisse von einander, das rührt mich ja geradezu an. Prost, meine Lieben. Und Danke noch mal, Martha.“

Martha und Finny nickten sich zu, sie hatten jenes tiefe Strahlen in den Augen, das man nur bei glücklichen Menschen erkennen kann, die gerade mit sich ins Reine gekommen sind. Finny wandte sich nun zu Lehne, lächelte, klopfte ihr auf die Schulter und meinte „nur unsere brave Lehne, die hat sicher nichts zu beichten, nicht wahr?“
Auch Marthas Augen richteten sich nun liebevoll auf die Freundin, von der sie beide annahmen, dass diese zu einer solchen Art von Beichtgespräch nun sicher rein gar nichts beizutragen hatte.
Lehne aber senkte den Blick. „Das glaubt aber auch nur ihr.“ Sie stocherte unschlüssig in den Resten ihres Kuchens herum, ehe sie fort fuhr. „Aber die Sache sieht ein ganz klein wenig anders aus.“
Sie machte eine Pause und nun waren es Martha und Finny, die die Freundin ungläubig anstarrten.
Lehne räusperte sich, dann fuhr sie fort. „Also, mir geht es mit meinen beiden Töchtern wirklich gut, da kann ich tatsächlich nichts anderes erzählen. Sie sind hinreißend zu mir, beide. Das ist nicht das Thema. Aber es gibt tatsächlich etwas, das ich als Geheimnis bezeichnen würde.“ Sie machte eine beinahe perfekte dramaturgische Pause und tupfte ihre Lippen mit der Serviette ab. Finny und Martha rutschten wie zwei Schulmädchen auf ihren Stühlen hin und her, wagten aber nicht, irgendetwas zu sagen. Viel zu groß war ihre Furcht, ein falsches Wort zu sagen, etwas, das den Zauber der kommenden Enthüllung verderben konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit begann Lehne dann endlich wieder zu sprechen.

„Ihr dachtet doch immer, ich bekäme nicht wirklich viel Rente, nicht wahr?“
„Ja sicher, du gönnst dir nie etwas, bist sparsam und bescheiden.“ Martha nickte, Finny auch, „Genau, genau, so kennen wir das“. Beide waren froh, schnell ein Wörtchen einschieben zu können, denn sie hatten den Atem angehalten und wären sicher bald geplatzt, wenn sie sich nicht auf diese Weise ein wenig Luft hätten machen können. Selbst Tessi winselte leise von hinten, als würde auch sie zustimmen.
„Nun, das stimmt so eigentlich nicht ganz, ich bekomme nämlich schon eine wirklich große Summe Geld. Jeden Monat. Mein Jockel hat ja einen guten Beruf gehabt als leitender Angestellter bei der Versicherung. Zu seiner Rente hatte er sogar noch eine große Lebensversicherung abgeschlossen, die ich ebenfalls in monatlichen Raten ausgezahlt bekomme.“ Sie machte eine Pause und sah auf ihre Hände. Martha und Lehnchen hielten erneut den Atem an. Vor lauter Nervosität strich sich Martha im Sitzen mit beiden Händen den Rock glatt. Das hatte sie noch nie zuvor getan. Die Pause, die Lehne brauchte, um sich zu sammeln, dauerte für die Freundinnen abermals viel zu lange.
Wohl auch für Tessi, denn sie begann, leise aus dem Hintergrund zu knurren. „Ich würde jetzt gerne nach ihr schnappen, damit sie anfängt zu erzählen. Darf ich?“
Sie erntete einen bösen Blick von Martha.
Endlich begann Lehnchen dann aber doch wieder zu sprechen. Dieses Mal schneller als die Freundinnen zu hoffen gewagt hatten. „Es ist so, dass Jockel immer sehr sparsam war. Eigentlich sogar geizig. Er hat mir nie Blumen oder Pralinen mitgebracht oder mir ein wunderschönes Kleid geschenkt. Geschweige denn Schmuck. Und in all den Jahren hat sich bei mir eine richtige Wut gegen diesen Geiz aufgestaut. Ich hatte nie so hübsche Dinge wie ihr, wie die anderen Frauen. Ich habe sehr darunter gelitten, aber ich konnte es einfach nicht ändern. Naja, und es gab etwas, das hat er vollkommen gehasst. Und als er gestorben war, habe ich beschlossen, genau das zu tun. Also ich gebe den Mädchen regelmäßig etwas, damit sie sich etwas Schönes gönnen können, denn glaubt es oder nicht, das kann ich mittlerweile kaum noch.“ Lehnchen nahm ihr Glas Portwein und kippte es in einem Zug herunter, dann sah sie bedeutungsvoll in die Runde.

„Dafür gehe ich immer am letzten Tag des Monats ins Aachener Spielcasino. Ich verzocke dort alles, was übrig ist. Und das ist regelmäßig eine Menge, weil ich ja kaum etwas ausgebe. Und ihr ahnt ja gar nicht, was für einen Spaß ich daran habe. Ich werde mittlerweile wie eine Königin behandelt, ja regelrecht hofiert wie nicht einmal in meinen jungen Jahren als ich noch relativ hübsch war. Wenn ich dummerweise mal gewinne, was auch schon vorgekommen ist, spende ich immer sofort die ganze Summe. Ich habe schon der Kinderkrebsstation im Klinikum Tausende von Euros vermacht, dem Tierheim und der Obdachlosenhilfe. Und es ist so eine absolut herrliche Erfahrung von purer, hundsgemeiner Rache an meinem Jockel, wenn ich spiele, das könnt ihr euch überhaupt gar nicht vorstellen. Besonders natürlich, wenn ich verliere. Dann freue ich mich am allermeisten. Denn Spielen ist Geld rauswerfen, hat Jockel immer gesagt. Es ist die schlimmste und unnötigste Form von Geldverschwendung, die er kannte. Und nun zahle ich es ihm heim. Ich stelle mir jedes Mal sein wutzerknautschtes Gesicht im Himmel vor, wenn er mich dort im Spielcasino sieht. Ich habe mir extra für diese Abende einen sehr schönen schlichten schwarzen Hosenanzug gekauft und trinke dort nur Champagner. Alles vollkommen unnötig, aber wunderbar.“
Lehnchen, die mütterliche, runde und bieder wirkende Lehne strahlte zufrieden wie ein Weihnachtsengel ganz oben auf der Spitze eines perfekt herausgeputzten Tannenbaums.
Tessi bellte anerkennend. Das war eine super Leistung und mit einem Schlag wurde ihr die gute alte dicke Lehne mehr als sympathisch.
„Oh,“ zu mehr war Finny nach dieser Geschichte erst einmal nicht in der Lage.
„Oh,“ Martha sah die Freundin beinahe ehrfürchtig an, „das ist die tollste von unseren Geschichten, ein richtiges Doppelleben. Ich bewundere dich, habe ich damals schon, denn es war auffällig, dass Jockel mit dem Geld ausgeben so seine Eigenheiten hatte. Ich habe wirklich immer gedacht, muss das eine Liebe sein, so wie die Lehne damit umgeht.“
„Quatsch.“ Lehne trank noch einen Schluck Kaffee und stopfte sich ein großes Stück Törtchen in den Mund, antwortete aber dennoch mit vollem Mund. „Isch habe dasch gehasscht, aber wasch hätte isch tun schollen?“ Sie kaute und schluckte. Zufriedenheit breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Ich habe keinen Beruf erlernt, also war ich Mutter und Hausfrau. Das war ich allerdings richtig gerne und dafür habe ich gelebt. Meine Mädels sind mein Lebensinhalt, deshalb kann ich den Schmerz wegen deinem Axel blendend nachvollziehen, liebe Martha. Das muss ganz fürchterlich sein für dich, meine Situation ist dagegen doch herrlich. Die Kinder haben selber gute Berufe und nette Ehemänner und ich kann meine nie gelebten Gefühle von Wut, Hass und Rache im Casino ausleben. Das spart eine Menge Geld für Therapeuten und macht auch noch viel mehr Spaß. Ist doch wundervoll, oder? Also mir gefällt es zumindest sehr.“

Finny erhob ehrfürchtig ihr Glas. „Lehne, das ist eine unglaubliche Leistung. Eins plus mit Doppelsternchen. Irgendwie bin ich stolz auf dich, ja wirklich.“
Lehne kicherte wie ein Schulmädchen. „Ich auch, muss ich ehrlich sagen. Finny, liebe Frau Schuldirektorin, ich danke dir“.
Auch Martha erhob ihr Glas, kopfschüttelnd. „Und ich dachte immer, ich sei die Einzige, die so etwas hat, die euch beiden etwas vorenthält, weil es mich selber so beschämt. Ist doch eigentlich unvorstellbar oder?“
„Ja, ist es. Aber wie du siehst, haben wir alle unsere Themen. Und unsere Leben sind eben alle nicht gänzlich glatt verlaufen.“ Lehne lächelte in die kleine Runde.
„Na glaub mal nicht, dass meines perfekt war. Ich bin im Tierheim gelandet. Aber mich fragt ja keiner.“ Schmollend drehte sich Tessi in ihrem Sessel so, dass sie den drei Damen den Rücken zukehrte.
„Mach ich nachher.“ Martha versuchte, sehr leise und nuschelig zu reden. Eine zugegebenermaßen dämliche Idee am Kaffeetisch. Lehne und Finny sahen sie sofort an.
„Bitte?“
„Was hast du gesagt?“
Tessi drehte sich wieder um und jaulte vor Freude. „Oh wie schön, ja, stimmt, nachher sind die ja wieder weg und dann habe ich dich wieder ganz für mich alleine. Das ist mir sowieso das Liebste. Schmeiß sie bald raus, ja? Gieß doch ordentlich Portwein nach, dann sind sie schnell betrunken und gehen von sich aus.“
„Es ist sehr schön, dass ihr da seid, meine Lieben. Entschuldigt bitte, ich war in Gedanken.“
„Schon kapiert.“ Tessi legte beleidigt den Kopf auf die Pfoten.

Martha sah ihre beiden Freundinnen an. „Wirklich, ich finde diesen Nachmittag unglaublich schön mit euch beiden.“ Sie hob ihr Glas. Tränen schimmerten in ihren Augen. „Auf die Freundschaft“.
Martha und Lehnchen hoben nun ebenfalls ihre Gläser und wischten sich verstohlen die Augenwinkel. „Ja, auf die Freundschaft.“
„Prost, auf die Freundschaft.“
Stille. Schlucken. Tränchen trocken tupfen. Es folgte noch eine kleine Phase von Schweigen, dann begannen die drei Damen wie die Hühner zu schnattern, hysterisch zu kichern und damit all die angestauten Gefühle zu verarbeiten. Nachdem der Ernst in kichrige Albernheit gekippt war und auch diese abgeebbt war, kehrte allmählich zufriedene Ruhe ein. Es schien, als bräuchten die aufgeschaukelten Gefühle nun eine Pause, um wieder in den Normalzustand zurück finden zu können. Der Kaffeeklatsch endete für die drei alten Damen mit belangloseren Themen. Aber jede von ihnen spürte, wie nahe sie sich gekommen waren, wie wunderbar und einzigartig dieser Austausch gewesen war.
Etwas wirklich besonders Besonderes hatte stattgefunden.
Und bald darauf wurde Tessi erlöst. Finny und Lehnchen, müde vom Alkohol und völlig entspannt nach dem Wellenritt durch sämtliche Gefühlslagen, die sie miteinander geteilt hatten, machten sich auf den Heimweg. Martha verabschiedete beide an der Tür, dann kehrte sie zu ihrer kleinen Hündin zurück.
„Oh Tessi, das war ein außergewöhnlicher Nachmittag, findest du nicht?“
„Oh ja, das war er, für euch Menschen besonders. Ich fand es super, dass ihr alle über diese komischen Geheimnisse, die ihr vor einander hattet, geredet habt. War dringend an der Zeit, du merkst ja selber, wie belastend es ist, so etwas für sich behalten zu wollen.“
„Da hast du allerdings Recht, meine Kleine. Reden denn Hunde untereinander anders?“
„Klar, entweder wir mögen einander oder eben nicht. Dann heißt es schlicht hau ab, ich kann dich nicht riechen und gut ist es. Dieses nachtragende Beleidigtsein, diese Empfindlichkeiten und diese Art möchte-gerne-moralischen Verhaltens wie ihr Menschen, das kennen wir nicht. Wir schaffen von ersten Kennen lernen an klare Verhältnisse, solltet ihr Menschen euch auch angewöhnen, finde ich. Es ist nämlich viel einfacher als euer künstliches Höflichtun. Aber umso mehr bewundere ich dich, dass du heute ganz ehrlich gewesen bist, Frauchen.“
Zufrieden wedelte Tessi mit dem Schwanz.

„Ich hätte es nie für möglich gehalten, wie befreiend so eine Aussprache sein kann, wenn ich ehrlich sein darf. Ich räume nun den Tisch ab und dann machen wir noch eine kleine Runde durch den Park, einverstanden, Tessi?“
„Ja sehr, und wenn wir zurückkommen, machen wir zwei es uns gemütlich o.k.? Nur du und ich.“
„Das machen wir, meine Kleine,“ erwiderte Martha schmunzelnd und räumte das Geschirr in die Küche. Sie wusste nur zu genau, wie eifersüchtig die kleine Hündin sein konnte und wie sehr sie es genoss, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Frauchens zu bekommen.
Wenig später waren die zwei wieder im Park unterwegs und drehten ihre letzte Runde für diesen Tag. Tessi schnüffelte hier und dort, scheuchte ein paar Amseln auf und freute sich, wenn diese zeternd und schimpfend das Weite suchten. Ihr Frauchen hingegen schlenderte glücklich und zufrieden die Wege entlang und freute sich über die Sommerblumen, die sirrenden Insekten und die vorüber gaukelnden Schmetterlinge. Bald würde die Sommerabenddämmerung einsetzen, die der Umgebung jenen zarten bläulichen Schleier überwarf, den Martha zeitlebens als zauberhaft empfunden hatte. Sie lächelte, vielleicht lag es am Sherry, vielleicht am Unfall mit dem Kuchenbotenindianer, sie wusste es nicht, aber an diesem eigenartigen Tag sah sie die Welt klarer als sonst, bunter, farbiger, alles um sie herum duftete intensiver als gewöhnlich und ihre eigenen Gefühle schienen ebenfalls eine andere Qualität zu haben. Es war eine herrliche, wirklich besondere Welt an diesem ungewöhnlichen Tag, den sie erlebte.
„Trotz all der Entbehrungen, Schwierigkeiten und Probleme, die ich gehabt habe,“ dachte Martha zufrieden, „habe ich doch ein glückliches Leben leben dürfen.“

Zufrieden kehrte Martha mit ihrer vierbeinigen Freundin zurück in die Wohnung. Dort öffnete sie die Terrassentür weit, damit die laue Sommerabendluft durch die Wohnung ziehen konnte und richtete ein paar Schnittchen, von denen eines dick mit frischer Leberwurst bestrichen wurde. Für Tessi natürlich. Dann entkorkte sie wie angekündigt die letzte Flasche Champagner, schenkte sich ein Glas ein und trug alles ins Wohnzimmer. Nun öffnete sie den Schrank mit den Fotoalben und holte eines heraus, das sie ebenfalls zur Couch trug. „Komm nur Tessi, setz dich zu mir, wir können ein bisschen in den Alben blättern.“
„Ich komme schon.“ Tessi, die kurz noch einmal im Garten nach dem Rechten geschaut hatte, kam um die Ecke getrabt und sprang neben Martha aufs Sofa. Sie sah ihr Frauchen liebevoll an, warf einen Blick auf das verlockend duftende Leberwurstbrot und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. Als Martha nicht sofort reagierte, stupste sie sie vorsichtig mit der Nase am Arm an.
„Oh, Tessi, entschuldige, ich habe ja ganz vergessen, dir dein Brot zu serviere,“ sagte Martha lachend, denn sie liebte es, wenn die kleine Hundenase vorsichtig aber bestimmt darauf hinwies, dass sie etwas haben wollte. Auch wenn das in jedem handelsüblichen Hunderatgeber als eine Todsünde gehandelt wurde. Gleich nach dem Schlafen im gemeinsamen Bett, wo Tessi schon immer ihre Nächte hatte verbringen dürfen, seit sie in den Haushalt gekommen war. Natürlich stellte Martha ihr auch jetzt sofort den Teller mit dem kleingeschnittenen Brot zurecht. Tessi bediente sich vorsichtig und sehr elegant.
„Lecker wie immer, Frauchen. Ich liebe diese Schnittchen.“ Eine hellrosa Zunge schleckte sich rechts und links über das Mäulchen. Dann rülpste die Hundedame ganz, ganz leise aber doch hörbar genug, dass Martha sie zunächst erstaunt ansah, bevor sie laut loslachen musste.

„Tschuldigung,“ Tessi legte die Öhrchen flach an den Kopf und kuschelte ihren Kopf in Marthas Schoß. Ihre braunen Augen sahen schuldbewusst von unten in die Augen ihres Frauchens.
„Oh meine süße kleine Tessi, du bist einmalig,“ Martha amüsierte sich köstlich und knuddelte das Tier. „Es macht gar nichts, Tessi, du musst dich nicht schämen.“ Sie hob den kleinen Hund hoch und drückte ihr Gesicht in das warme Fell, das einen wunderbaren Eigengeruch nach Erde und Moos verströmte. Tessi drückte ihr Gesicht an das von Martha und machte leicht knurrende, tiefe Töne, wie sie es immer tat, wenn es ihr besonders gut ging.
„Ich schäme mich auch überhaupt nicht, Frauchen, aber ich liebe es, wenn du dich über mich freust, also tue ich so, als würde ich mich schämen,“ grinste sie Martha schelmisch an.
„Wie bitte?“ lachte diese, „du hast all die Jahre nur so getan, als würdest du dich schämen weil es mir Freude gemacht hat?“
„Jap, habe ich.“ Schwanzwedelnd und mit schief gelegtem Kopf sah sie ihren Menschen an.
Martha schüttelte den Kopf und lächelte. Sie konnte sich gut vorstellen, was Tessi alles noch ihr zuliebe gemacht haben musste, aber es war vollkommen in Ordnung.
„Ach Tessi, wie wundervoll es ist, mit dir reden zu, das glaubst du ja gar nicht.“ Noch einmal drückte sie ihr kleines Hündchen, ignorierte abermals ein deutliches Stolpern ihres alten Herzens und griff zu ihrem Champagnerglas.
„Ich habe immer nur gewollt, dass es dir gut geht, Frauchen. Und wenn du dich über mich amüsiert hattest, habe ich mich jedes Mal gefreut.“
„Und ich wollte dasselbe für dich,“ erwiderte Martha gerührt. „Auf unsere Freundschaft, kleine Tessi.“ Sie prostete dem Tier zu und nahm einen Schluck, „So, und nun will ich mal in die alten Fotos schauen.“ Während Martha nun das Album aufschlug, kuschelte sich Tessi eng an sie und schloss die Augen.


„Sieh nur, es sind die Bilder aus der Zeit, als du gerade in unsere Familie gekommen bist,“ sagte Martha leise und ein bisschen ergriffen. Tessi antwortete ihr mit geschlossenen Augen. „Menschliche Photos kann ich nicht gut erkennen, aber an jene Zeit habe ich so lebhafte Erinnerungen, dass ich sowieso keine Photos brauche, um mich erinnern zu können. Erzähl mir nur, was es auf den Bildern zu sehen gibt, ich sehe es dann vor mir.“
„Naja, es sind Bilder, auf denen ich dich ständig auf dem Arm habe oder dich beim Spielen oder Schlafen fotografiert habe, alleine mit den Kinder und später mit meiner Enkelin spielend. Du warst ein entzückender Welpe, obwohl du ja damals schon sieben Monate alt gewesen bist, für Hundeverhältnisse also beinahe schon ein Teenager. Ich wüsste zu gerne, was in der Zeit geschehen ist, bevor du zu uns gekommen bist. Würdest du mir darüber erzählen?“
„Aber natürlich, sehr gerne sogar.“
Martha hob ihr Glas und prostete Tessi ein zweites Mal zu. Dann strich sie mit ihrer faltigen Hand, die über und über mit Altersflecken besetzt war, liebevoll über das weiche Hundefell und Tessi seufzte glücklich. Sie liebte diese Berührung.
Martha war mehr als gespannt. Was würde ihre kleine Freundin ihr jetzt wohl berichten? Vor
Lauter Freude machte ihr Herz gleich noch einen gewaltigen Stolperer. Martha strich noch einmal über ihren Rock. Sie sollte ihre Herz-Tabletten nehmen, aber dafür war später noch Zeit. Jetzt wollte sie nicht, es war viel zu aufregend, was hier geschah. Sie fühlte sich ein wenig angestrengt und müde, gleichzeitig aber aufgeregt wie ein Schulmädchen vor einer wichtigen Prüfung. Irgendwie war heute alles ein wenig zu viel, erst konnte ihre Hündin mit ihr reden und dann die Lebensbeichten der Freundinnen, es war mehr als ein besonders Besonderer Tag.

Liebevoll blickte Martha ihre Hundefreundin an, nahm sicherheitshalber noch schnell ein weiteres winziges Schlückchen Champagner, dann begann Tessi auch schon mit ihrer Erzählung. Sie setzte sich auf, sodass sie Martha direkt ansehen konnte.
„Ich fang kurz von ganz vorne an, damit du auch alles erfährst. Ich wurde in einem kleinen Ort in der Voreifel geboren, mit drei Brüdern. Die Jungs sind alle vermittelt worden, mich aber wollte aus gutem Grund niemand wirklich haben, ich war nicht nett, habe gebissen und Dinge kaputt gemacht. Ich bin dann zu einer Tante der Familie gekommen, die drei Katzen hatte und das Leben für mich als kleiner Hund war furchtbar dort, da die Katzen mich nie akzeptierten und ständig nach mir schlugen. Ich war ihnen lästig. Und das fand diese Tante wohl auch. Sie hat mich auf einem Parkplatz am Rande einer Stadt, die ich nicht kannte, dann einfach hingesetzt, an einen Baum gebunden und ist weggefahren. Ich war drei Monate alt und habe da gesessen und nicht gewusst, was ich machen sollte. Es war grausam, so alleine zu sein, wirklich. Ich hatte Angst, war hungrig und durstig und ganz, ganz traurig. Und ich habe die ganze Zeit gedacht, sie würde doch noch zurückkommen und mich holen, so gemein sie auch war. Ich konnte nicht glauben, dass sie mich einfach dort ausgesetzt hat. Am späten Nachmittag sind zwei junge Leute vorbeigekommen, die mich mitgenommen haben, mir etwas zu trinken und zu essen gegeben haben. Dann kam ich ins Tierheim und wurde dreimal vermittelt. Aber ich habe mich immer wieder schlecht benommen, weil ich doch gewusst habe, für wen ich in meinem Hundeleben bestimmt gewesen bin. Für dich nämlich, für Martha Heinrich. Also haben mich die Menschen immer wieder zurück gebracht und als ich sieben Monate alt war, habe ich dich endlich gefunden.

Ich werde die Aufregung nie vergessen, als du mit deiner Tochter und ihrer Freundin zum Sommerfest des Tierheims gekommen bist und ich dich gesehen habe. Ich habe dich sofort erkannt und du mich auch, nicht wahr? Tja, den Rest kennst du ja.“
Martha sah ihre Tessi mit Tränen in den Augen an. „Das stimmt, Tessilein. Ich wusste sofort, dass ich dich mitnehmen musste, komme was wolle. Du konntest ja gar nicht mehr aufhören an dem Zaun deines Zwingers auf und ab zu springen und zu winseln, als du mich gesehen hattest. Oh wie wunderbar, du warst von Anfang an für mich bestimmt?“
Tessi nickte und bellte zweimal. Martha umarmte und küsste ihr Tier. „Ach mein Engel, wie schön.“ Mit rotglühenden Wangen sah sie ihre kleine Hundefreundin an, die mit dem Schwanz wedelte.
„Ja, wir Tiere suchen uns aus, mit wem wir zusammen sein wollen. Jedes Wesen hat eine Aufgabe, an der es wachsen kann. Egal ob Mensch oder Tier. Manchmal sind die Aufgaben nicht so schön, in unserem Fall aber schon, finde ich. Wie war denn dein Leben, bevor ich kam? War es schön?“ Tessi rollte sich in ihrer Sofaecke ein und legte sich so, dass sie ihr Frauchen genau beobachten konnte.
„Weißt du, im Großen und Ganzen bin ich sehr zufrieden mit meinem Leben. Was sicher auch daran gelegen hat, dass ich meinen Mann Walter kennen gelernt habe, als ich meine erste Stelle angetreten hatte. Durch die Kriegsjahre habe ich keine wirklich gute Ausbildung machen können oder gar studiert. Ich habe dann Hauswirtschaft erlernt und bin sofort in einem sehr vornehmen Haushalt angestellt worden.

Die ältere Dame hatte ihren Ehemann im Krieg verloren und sie war hoffnungslos ungeschickt in der Haushaltsführung. Und ihr Sohn, tja, das war der Walter, der war total genervt von dem Durcheinander im Haus seiner Mutter. Er war zehn Jahre älter als ich und hat sich auf den ersten Blick in mich verliebt, hat er gesagt.“ An dieser Stelle errötete Martha ein wenig verlegen. Schnell tank sie noch ein Schlückchen Champagner. „Ich war damals einundzwanzig und fand ihn auch ziemlich großartig. Wir waren drei Jahre befreundet, ehe wir geheiratet haben. Walter war ein kluger Mensch, aber auch ein wenig ängstlich. Er hat eine Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung eingeschlagen, war fleißig und beliebt und hat mich sehr verwöhnt. Wir hatten eine sehr schöne Ehe, das hat mich mit dem Schicksal des Krieges wieder ausgewöhnt. Sicher, Walter hatte seine kleinen Macken, aber mit denen habe ich gut umgehen können. Wenn ich da an die Geschichten von Finny und Lehnchen vorhin denke, also das war etwas ganz anderes mit ihm. Und wir hatten sehr viel Freude an den Kindern. Erst kam Susanne, du meine Güte, sie ist gerade fünfzig geworden, dann Hartmut und zum Schluss Axel.“
„Das ist der, der in Brüssel lebt.“
„Stimmt genau. Wir hatten ein sehr glückliches Leben, nur Tiere hätte ich gerne um mich gehabt, ich bin ja auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen und da hatte ich immer Tiere um mich herum. Die Kinder haben sich auch immer Haustiere gewünscht, aber Walter war ja ein wenig zwanghaft ordentlich, er wollt einfach keine Tiere im Haushalt. Jedenfalls nicht, bis du erschienen bist.“ Martha kicherte. „Als er starb hat er mir eine sehr gute Pension hinterlassen, sodass ich mit dir hier in diese teure Seniorenresidenz ziehen konnte. Ich wollte keinem der Kinder zur Last fallen und so lange wie möglich alleine wohnen. Tja, so ist das Tessi. Du begleitest mich nun schon siebzehn Jahre lang, meine Kleine.“
„Ja, das stimmt wohl.“

„Tessi, mir fällt noch etwas ein. Du hast gerade über die Aufgaben gesprochen, die man als Wesen auf der Erde hat. Erinnerst du dich?“
„Aber ja, das ist immer so, Martha. Wir Tiere kommen mit bestimmten Aufgaben in diese Welt. Das ist bei euch Menschen nicht anders, jedes Lebewesen hat seine Lebensaufgabe, ihr Menschen aber kennt sie nicht, weil das Teil der Verabredung ist, sie zu vergessen, wenn ihr hier geboren werdet. Bei uns Tieren ist das anders, wir sind uns unserer Lebensaufgabe bewusst.“
„Und darfst du mir denn sagen, was deine Aufgabe ist?“ Martha hielt ihren Atem an, reckte den Kopf vor und ihr Champagnerglas fest umklammert.
„Jahaaa. Darf ich.“ Tessi schien es zu genießen ihre Frauchen ein wenig auf die Folter zu spannen.
„Oh bitte, Tessi, dann tu das doch auch. Ich bin schon jetzt ganz schrecklich nervös. Du machst es nur noch schlimmer.“ Kicherte Martha erwartungsvoll und nippte an ihrem Glas.
„O.k., es ist eigentlich ganz einfach. Denk doch mal daran, was sich durch mich in deinem Leben geändert hat.“
„Sehr vieles. Obwohl Walter anfangs dagegen war, dass du bei uns bliebst, hatte er kein Problem damit, dass ich dir alles Mögliche beibringen und zeigen musste. Wir waren eigentlich wenig unterwegs, eher sehr häuslich.“
„Genau, ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich dich immer überall begleiten durfte. Wir sind in der Stadt gewesen, bummeln und einkaufen, bei deinem Frisör und zum Kaffeetrinken bei deinen Freundinnen.“
„Naja, du hast dich ja auch wirklich hervorragend benommen, kleine Tessi.“ Martha kicherte. „Sogar Walter hat dich nach und nach wirklich geliebt, weil du ihm abends immer die Pantoffeln gebracht hast und morgens die Zeitung.“

„Das war clever von mir, nicht wahr?“ Tessi bellte vor Freude. „Ich wusste doch, dass ich mir etwas würde einfallen lassen müssen, so pingelig wie Walter war.“
„Das war er wirklich.“ Marthe seufzte. „Beinahe schon zwanghaft, kann man sagen. Und dennoch habe ich ihn schrecklich vermisst, als er gestorben war.“
„Womit wir uns meiner Aufgabe nähern.“
„Ach wirklich? Oh Tessi, ich glaube, ich beginne zu verstehen, du hattest als Aufgabe, meine Begleiterin zu werden, damit ich nach Walters Tod nicht so alleine sein musste. Ist es so?“
„Beinahe. Wir waren ja nun auch ein paar Jahre zusammen, bevor er starb, nicht wahr?“
„Ja, richtig.“
„Und in dieser Zeit hatte ich auch eine Aufgabe. Sag mal ehrlich, wärst du ohne mich damals auch wieder so aktiv geworden?“
Martha lachte herzlich. „Oh Tessi, nein, niemals, das ist wahr! Ich war durch Walter ganz schön bequem geworden, denn mit ihm war es ja aufgrund seiner Pingeligkeit immer schwieriger geworden, etwas zu unternehmen. Und mit dir hatte ich eine großartige Entschuldigung, der Hund musste ja spazieren gehen und alles kennen lernen. Die Stadt, die Freundinnen, Auto und Bahn fahren, mal ein Wochenende an der See und so weiter, eben alles.“
„Klar, musste ich das,“ bellte Tessi fröhlich.
„Siehst du und so bin ich eben ständig mit dir rausgekommen.“ Liebevoll sah Martha den kleinen Terrier an, der aufgeregt mit dem Schwanz wedelte.

„Genau, das war die erste von drei Aufgaben, die ich für dich hatte. Ich sollte dir in dieser Zeit durch all diese Aktivitäten deine Lebensfreude wiedergeben, denn Martha, wäre das nicht gelungen, wärst du seelisch sehr krank geworden. Und dann hättest du deine eigene Lebensaufgabe nicht mehr schaffen können.“
„Oh,“ sagte Martha leise. „Kennst du denn auch meine Lebensaufgabe?“
„Ja, aber die darf ich dir nicht sagen. Ich kann dir nur verraten, dass du einen wichtigen Teil erfüllen wirst.“
„Oh,“ sagte Marthe zum zweiten Mal. Dann schwieg sie eine lange Weile, ehe sie Tessi forschend ansah. „Aber du hast gesagt, das war die erste von drei Aufgaben für mich. Was war denn die zweite?“
„Die zweite Aufgabe bestand darin, dich nach dem Tod von Walter zu begleiten, denn nachdem du wieder aktiv geworden warst, was die erste und wichtigste Voraussetzung für den zweiten Teil war, musstest du es nun schaffen, umzuziehen und dich mit den Kindern auf eine neue Weise auseinander zu setzen. Wohlgemerkt mit jedem deiner drei Kinder.“
„Und, Tessi? Habe ich das auch geschafft?“
„Gerade heute, Frauchen,“ voller Stolz und Freude wedelte die Hündin derart mit dem Schwanz, dass beinahe das ganze Tier hin und her wackelte. „Es gehörte nämlich dazu, dass du dich ehrlich mit den Beziehungen zu jedem von den dreien auseinandersetzt. Und du konntest bisher ganz schön hartnäckig leugnen, dass du mit deinem Sohn Axel Probleme hast! Aber heute hast du es geschafft, darüber zu reden und damit ist der zweite Teil auch erfüllt.“

„Tja, meine kleine Tessi, so seltsam das alles ist, so richtig fühlt es sich an. Ich war und bin noch immer enorm erleichtert darüber, dass ich mit den beiden Freundinnen gesprochen habe. Herrlich, und nun erfahre ich auch noch, dass das zu meinen Lebensaufgaben gehört hat. So ist es doch, Tessi? Es gehörte zu meiner und deiner Aufgabe, stimmt es?“
„Ja, genau, wir Tiere unterstützen euch Menschen sehr oft darin, eure Aufgaben zu erfüllen. Wir sind darin vielleicht ein bisschen besser als ihr, weil wir den Draht in die nichtalltägliche Wirklichkeit behalten, wir stellen vieles, was ihr spirituell oder esoterisch nennt, gar nicht in Frage. Und wenn wir das hinbekommen, dass unser Mensch seine Aufgabe erfüllt, so ist auch unsere erfüllt und das ermöglicht seelisches Wachstum für jeden von uns.“
„Na, dann bleibt ja nur noch der dritte Teil übrig, nicht wahr?“
Tessi sah ihr Frauchen unvermittelt ernst an. „Und den schließen wir auch noch heute ab. Gemeinsam. Du wirst es bald sehen.“
Martha sah ein fremdartiges Leuchten in den Augen ihres Tieres, eine warme Welle von vollkommen unbestimmter Vorfreude durchflutete sie. Sie hob ihr Glas, prostete Tessi zu und trank es in einem Zug leer. „Ich freue mich darauf, kleine Tessie. Was auch immer da kommen mag,“ sagte sie leise.
„Frauchen, trink deinen Champagner ganz aus, die gesamte Flasche. Die Sache, die auf uns zukommt, ist es wert.“
Wieder war da dieses fremdartige Leuchten in den Augen des Tieres, das auf einmal sehr würdevoll erschien. „Tessi,“ flüsterte Martha, „ich glaube, du bist eine ganz große Hundpersönlichkeit im Himmel, kann das sein?“ Sie goss sich ein weiteres Glas Champagner ein. Tessi, die sie die ganze Zeit im Auge behalten hatte, nickte nur schweigend.

Genau in dieser Minute klopfte es. Dann klingelte es. Und klopfte wieder.
Martha erschrak für einen kurzen Moment. „Oh, das ist das Zeichen der Pflegerin, die noch einmal nachschauen will, ob auch alles in Ordnung ist.“ Tief atmete sie ein und aus, dann rief sie zur Tür „Kommen Sie nur herein, ich bin hier im Wohnzimmer.“
„In Ordnung, Frau Heinrichs,“ antwortete eine angenehm tiefe weibliche Stimme und schon stand eine füllige, völlig in weiß gekleidete Frau im Zimmer. Martha kannte sie nur zu gut, es war Britta, ihre Lieblingspflegerin.
„Guten Abend Britta, schön, dass sie hereinschauen. Aber es ist alles bestens, sehen Sie nur, Tessi ist da und es ist alles ganz wundervoll.“
„Ach, Frau Heinrichs, Sie sollten das mit dem Trinken wirklich lassen. Dann sehen Sie auch keine Hunde, die nicht da sind. Ihre kleine Hündin ist doch schon vor sechs Monaten gestorben, im Winter, hatten Sie das vergessen? Aber ist ja auch o.k. Ich komm dann morgen wieder rein. Schlafen Sie gut, Frau Heinrichs.“
Lächelnd wandte sie sich um und verließ die Wohnung. Das leise Klackgeräusch verriet, dass sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Martha blinzelte verwirrt.
Sie drehte sich langsam um. Dort lag doch Tessi. Konnte Britta sie denn übersehen haben?
„Tss, Tessi, sie hat dich einfach übersehen, das ist ja ein Ding!“ Kopfschüttelnd sah sie ihren Hund an.
„Nein, hat sie nicht,“ sagte Tessi, die ihr Frauchen die ganze Zeit über beobachtet hatte.
„Ja, aber …. ich sehe dich doch auch.“
„Nicht auch, mein geliebter Mensch. NUR du kannst mich sehen.“
„Oh.“ Martha schluckte und trank sicherheitshalber noch einen großen Schluck Champagner.
Eine lange Pause entstand.
Das Bild des Kuchenbotenindianers kam ihr noch einmal in den Sinn, wie er ungläubig zu dem Sessel geschaut hatte, auf dem Martha Tessi gesehen hatte. Er war gar nicht über die Höhe des Trinkgeldes erstaunt gewesen, das unter dem Sessel gelegen hatte, er war über ihre Aussage erstaunt gewesen, Tessi habe dort gelegen.
Er hatte dort gar keinen Hund gesehen.
So wie Finny und Lehnchen, die Martha ein wenig mitleidig angesehen hatte, als sie ihren kleinen Hund erwähnt hatte.
Niemand hatte Tessi sehen können, außer ihr.
Martha wandte den Kopf und blickte Tessi tief in die Augen.
Eine beinahe heilige Stille entstand.
„Und es gibt einen Grund, warum du hier bist, nicht wahr Tessilein?“
Martha spürte auf einmal eine unnatürliche Ruhe, die sich in ihrem Körper ausbreitete. So, als sei etwas ins Gleichgewicht gekommen. Auf einmal erinnerte sie sich auch an die Herzstolperer, die Herzrhythmusstörungen, die an diesem Tag besonders heftig gewesen waren.

„Natürlich.“ Tessi legte sich flach auf das Sofa, den Kopf zwischen die Pfoten. Ihr Blick hing fest an Martha. „Erinnerst du dich an die Email von deiner Enkelin Lina? Die mit dem Ende des Regenbogens?“
„Oh, oh ja natürlich! Du meinst diese wunderschöne Email, die man anklickte und dann kam ein Bild von miteinander spielenden Tieren. Darunter stand zu lesen: Es gibt einen Ort, an dem wir Tiere alle glücklich sind und miteinander auskommen, wo wir uns nicht bekämpfen und wo wir es alle gut haben. Wir haben genug Spielzeug und zu Essen und es gibt keinerlei Leid für uns. Richtig?“ Tessi wedelte mit dem Schanz. „Und man konnte immer diese wunderhübschen Tierphotos ansehen.“
„Martha, es ging noch weiter, erinnerst du dich auch daran?“
Die alte Dame dachte eine Weile nach. „Ja, das stimmt. Es ging noch weiter. Auf einmal kam da dieses Foto von dem Hund, der genau so da lag wie du jetzt gerade.“
„Und was stand darunter?“
„Äh, darunter stand, dass wir Tiere hier beinahe alles haben. Nur eines fehlt. Oh ja, ich erinnere mich jetzt deutlich, weil ich so sehr weinen musste an dieser Stelle. Es war weiter zu lesen: Nur du fehlst, der geliebte Mensch mit dem wir auf der Erde zusammen waren.“ Sie machte eine Pause und sah Tessi lange an. Tränen füllten ihre Augen, aber ihr Blick war seltsam klar. Voller unendlicher Liebe sah sie zu dem kleinen Tier. „Das nächste Foto zeigte diesen Hund, der so aufmerksam guckt, weil er etwas wahrgenommen hat.“ Ihre Stimme wurde ein wenig brüchig. „Etwas ganz Besonderes und Wichtiges, das seine gesamte Aufmerksamkeit fesselt. Ja, ja, Tessi, so ging es weiter. Und da stand dann, hm …,“

Martha räusperte sich, strich im Sitzen mit einer Hand den Rock glatt, räusperte sich noch einmal, dann sah sie Tessi an und atmete tief durch, „da stand:
Und eines Tages, wenn die Zeit gekommen ist, dann werden wir uns wiedersehen. Und dann sind wir für immer zusammen. Am Ende des Regenbogens.“
Die Stille, die nun entstand, breitete sich im gesamten Raum aus.
Sie tat es auf ihre Weise, etwa so, wie Parfüm sich im Raum zu verteilen vermag, unsichtbar, langsam, fein, exklusiv. Die Stille erreichte in ihrer vornehmen Art jeden Winkel der Wohnung. Nur das Ticken der Küchenuhr drang leise zu ihnen herüber.
Die Stille dauerte lange. Sehr lange sogar, dann aber lag sie wie ein feinseidenes Tuch über dem gesamten Raum. Martha schenkte sich das letzte Glas Champagner ein.
Wissende, beinahe heilige Stille erhellte den Raum, ließ ihn größer erscheinen als er war. Ganz langsam sah Martha zu dem kleinen Hund hinüber.
„Tessi, ist meine Zeit abgelaufen? Bin ich am Regenbogen angekommen?“
Tessi wedelte mit dem Schwanz. Sie sagte nichts, aber beinahe sah sie so aus, als ob sie lächeln würde. Ihr Blick, der noch immer fest auf Martha geheftet war, wurde so intensiv, als wolle sie ihr über geliebtes Frauchen allein mit den Augen verschlingen.
„Meine kleine Hundefreundin, dann stimmt es ja doch, was Britta gerade gesagt hat. Du bist schon vor sechs Monaten gestorben, im Winter. Meine wundervolle und mitfühlende Enkelin Lina hat mir nämlich als Trost diese Email geschickt, jetzt erinnere ich mich ganz genau. Und jetzt ist Sommer.“
Erstaunt und gerührt zugleich sah sie den kleinen Hund an.
„Nein, Tessi, wie wundervoll, wie unendlich lieb von dir! Du kleine Hundeseele bist gekommen, um mich abzuholen, nicht wahr? Das ist der dritte Teil deiner Aufgabe, unserer Aufgabe, stimmts? Ich habe dich begleitet, als deine Zeit gekommen war und nun bist du hier, weil meine Zeit gekommen ist.“ Tränen traten in die Augen der alten Damen. Sie spürte nichts als dankbare Freude, „damit ich nicht alleine an das Ende des Regenbogens gehen muss, nicht wahr? Und du hast mir die Zeit gegeben, mein ganzes Leben noch einmal Revue passieren zu lassen und mit mir ins Reine zu kommen. Mein Gott, wie herrlich.“
Tessi sprang auf und Martha geradewegs in die Arme. Sie schleckte das ganze Gesicht der alten Dame ab, ihr Schwänzchen wedelte wie verrückt und sie konnte sich kaum beruhigen. Martha hingegen konnte sich trotz der Tränen in ihren Augen freuen.
„Wie schön, wie schön. Ich hatte nämlich Angst, den Weg alleine gehen zu müssen.“
„Weiß ich doch, Frauchen.“ Tessi saß aufrecht auf ihrem Schoß und wedelte glücklich darüber, dass ihre Überraschung derartig gut gelungen war, unaufhörlich mit dem Schwanz. Sie legte den Kopf schief und sah ihrem Frauchen direkt in die Augen.
„Sollen wir? Es tut auch gar nicht weh und du wirst dich wundern, wie schön es für alle Seelen am Ende des Regenbogens ist.“
„Ja, geliebte kleine Hundefreundin, ich bin soweit. Lass uns gehen. Bis gleich, Tessi. Gleich sind wir da, nicht wahr?“ Martha küsste den kleinen Hundekopf voller Dankbarkeit. Tessi schleckte ihr zustimmend noch einmal kurz über die Hand, dann schmiegte sie sich eng an sie, genauso, wie Martha es immer geliebt hatte. Sie spürte das warme weiche Fell, roch den typisch erdigen Duft des Tieres und sagte leise „jetzt kann es losgehen. Zum Ende des Regenbogens“.

Als die Pflegerin Britta am nächsten Morgen wie üblich hereinschaute, fand sie Martha friedlich auf dem Sofa sitzend.
Sie war einfach eingeschlafen.
In Ruhe verstorben mitten im Sommer, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Nur ihre Arme hatten eine seltsame Haltung.
So, als habe sie einen kleinen Hund im Arm.
Und auf ihren Lippen war ein Lächeln.

Ende.

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