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Mönchengladbach, Juli 2011, lauer Sommertag

Ich bin aufgeregt. Sehr sogar. Drei Wochen nach meinem fünfundfünfzigsten Geburtstag kehren wir wieder nach Hause zurück. Mein Mann Markus und ich haben uns einen Traum erfüllt und ein Sabbatjahr genommen. Gut, eigentlich nur ein halbes, denn länger ging nicht im Büro von Markus, ich als Lehrerin in Teilzeitstelle hätte das hinbekommen, aber so war es auch in Ordnung. Wir wollten etwas von der Welt sehen, diesen Traum träumten wir schon ganz lange, genau genommen seit unseren Studentenjahren und endlich, endlich haben wir ihn uns erfüllt.

Nun habe ich es ja gerne sicher, also ich meine damit, ich weiß gerne, wo ich hin komme und ob es da gefährlich ist. Von wilden Tieren und Hitze halte ich gar nichts. Und so von der Landschaft her mag ich das Meer am liebsten, besonders die Nordsee. Außerdem finde ich es gut, wenn in dem fremden Land alles mit der Hygiene und dem Gesundheitssystem in einwandfreier Ordnung ist. Falls man mal zum Arzt muss. Und das Essen sollte wenigstens ein bisschen so sein, wie wir es kennen. Und lieben. Und die Mentalität der Menschen, die darf auch ruhig kalkulierbar sein, also nicht hundertprozentig natürlich, weil das nicht geht und auch langweilig wäre, aber eben berechenbar europäisch.

Nachdem wir all das in langer, gründlicher Vorbereitung durchdacht und geplant hatten, war es dann am ersten Januar soweit. Wir starteten. Und zwar haben wir uns einen romantischen Traum erfüllt und ein Wohnmobil gemietet. Und sind losgefahren, einfach drauf los. Ja, wir sind wie die Vagabunden ein halbes Jahr lang kreuz und quer unterwegs gewesen. Unser persönliches Abenteuer.

Durch ganz Holland und Belgien.

Meine Güte, war das schön! Und was haben wir nicht alles erlebt. Unfassbar, man könnte Bücher darüber schreiben. Schnee in Amsterdam, zugefrorene Kanäle in Brügge, heiße Sommertage auf Texel, die Reifenpanne in Knokke. Gut, das war nicht so schlimm, da kennen wir uns aus, das ging schon, es gibt ja auch genug Tankstellen und deutschsprechende Mechaniker dort in Belgien. Hat alles gut geklappt. Doch.

Herrlich war es, dieses halbe Jahr, wir sind noch immer ganz erfüllt von den vielen exotischen Eindrücken unserer Reise. Aber jetzt freuen wir uns auch wieder auf Zuhause.

Wie gut nur, dass meine liebe Kollegenfreundin Walburga Haselstrauch-Wesselsheim Haus und Garten gehütet hat. Wir haben natürlich Kontakt gehalten zwischendurch, immer mal eine SMS geschrieben, ist ja günstiger aus dem Ausland als zu telefonieren. So als kleinen Gruß von unterwegs. Aber es ist schon was anderes, wenn man sich so lange nicht sehen kann. Hat der Markus auch gesagt.

Nun aber, nun geht es wieder heimwärts. Die Zeit, die ich nicht in meinem geliebten Garten gewesen bin, kommt mir viel länger vor. Das ist ja auch klar, weil wir im Jahr vor der Reise ordentlich schuften mussten, um überhaupt frei machen zu können. So ein halbes Sabbatjahr muss man ja vorarbeiten. Das war hart, ging beinahe über die Belastungsgrenze. Aber wir haben es geschafft, auch wenn wir damit praktisch schon seit gut anderthalb Jahren unser Haus und vor allem den Garten gar nicht mehr richtig haben genießen können. Also in den letzten sechs Monaten gar nicht, ging ja auch nicht, da waren wir ja auf Reisen in Belgien und Holland.

Aber ich freue mich schon unendlich und unbändig darauf, alles gleich wieder zu sehen. Herrlich! Und es ist Juli. Hochsommer. Meine liebste Jahreszeit.

Vor meinem geistigen Auge kann ich mich schon auf meiner herrlichen italienischen Terrasse sitzen sehen, heute Abend. Ein Glas Rotwein, etwas holländischen Goudakäse dazu und dann einfach genießen. Ich freue mich!

Auf satt grün gemähten Rasen, gepflegte Staudenbeete, ausladende Rhododendronbüsche und meine üppigen Kübelpflanzen. Wie wunderbar, mein Herz hüpft schon jetzt voller Vorfreude auf und ab.

Der Markus und ich haben uns an meinem Geburtstag vor drei Wochen noch köstlich über diese Geschichte von vor zehn Jahren amüsiert, als jene Landschaftsarchitektin nach meinen Kirschlorbeermassaker den Garten neu gestaltet hat. Wir saßen mit Rotwein vor dem Wohnmobil auf dem Campingplatz in Zeeland und haben auf meinen Geburtstag angestoßen. Und uns an diese Geschichte von damals erinnert. Nur den Namen jener Gartenarchitektin, den haben wir nicht mehr erinnern können. Man vergisst halt schon mal was, wenn man älter wird. Sie hieß irgendwas mit Hühnerbein, das haben wir noch zusammen gekriegt.

So, noch zwei Kreuzungen, dann sind wir da.

Wunderschön! Sieh nur Markus, das Haus. Wie hübsch, unser Haus. Sauber, ordentlich und auch der Vorgarten ganz adrett. Die gute Walburga! Gut, dass wir ihr als Dankeschön dieses große Goudakäserad aus Holland mitgebracht haben.

Etwas steif von der langen Fahrt steigen wir aus, begutachten erst einmal draußen alles im Beet und dann endlich, dann gehen wir rein.

Blumen auf dem Tisch und ein Brief von Walburga, wie hübsch! Ich habe aber gar keine Ruhe, ihn sofort zu lesen, ich muss erst einmal in jeden Raum, die Treppe hoch laufen, muss wieder nach Hause kommen, alles begrüßen. Schön ist es hier! Sauber, gar nicht verstaubt und ganz ordentlich.

„Komm bitte mal runter“, höre ich Markus rufen. Er klingt komisch. Ich schwebe lächelnd die Treppe wieder runter und da steht er mit dem Brief von der Walburga in der Hand. Eigentlich hätte ich gedacht, dass er die Jalousien zum Garten schon mal hoch gemacht hätte, damit wir auch draußen alles ansehen und auf den schönen Rasen laufen können. Hat er aber nicht. Und er guckt so ernst, der Markus. Komisch.

„Setz dich bitte. Ich möchte dir was vorlesen. Von deiner Freundin.“

Ich setze mich an den Esstisch und sehe ihn glücklich an. Wie wunderbar, ein lieber Gruß meiner wunderbaren Freundin zur Ankunft nach der langen Reise, das erwärmt mein Herz.

„Ihr lieben Heimkehrer“, beginnt Markus. Sein Gesichtsausdruck ist merkwürdig und will so gar nicht zu meinen schönen Gefühlen passen. „Wenn ihr diese Zeilen lest, seid ihr hoffentlich wohlbehalten zurück. Ich hätte euch gerne persönlich begrüßt, aber das geht nicht. Ich bin nämlich in der Klinik, weil ich liegen muss. Schon seit über fünf Monaten. Kaum dass ihr weg gefahren seid, hat man nämlich festgestellt, dass ich mit meinen fünfundvierzig Jahren noch mal schwanger geworden bin, stellt euch vor! Mir war doch immer so übel, erinnert ihr euch? Das war also der Grund; ich bin schwanger! Kaum zu glauben. Wir waren ganz aus dem Häuschen, dass Lasse-Jonathan mit seinen zwölf Jahren nun doch noch ein Geschwisterchen bekommen sollte. Aber wegen meines Alters und ein paar Komplikationen muss ich liegen, das ist echt ein bisschen doof. Aber ich habe meine Haushaltshilfe zu euch geschickt und sie hat sich um das Haus gekümmert, sie ist ja da sehr gründlich. Nur den Garten, hat sie gemeint, den schafft sie nicht, aber das ist ja sicher nicht so schlimm. Sechs Monate sind ja nicht so lange und ich mag Naturgärten, die haben immer so etwas erdendes, so was von wilden Urinstinkten, ihr wisst was ich meine. Natur pur. Ich hab ihr gesagt, ihr hättet für meine Situation sicher Verständnis, das macht ihr mit links, wenn ihr wieder da seid. Den Vorgarten hat Lasse-Jonathan mit meinem Mann gemacht, toll nicht? Hinten müsst ihr mal sehen, der Rasen ist sicher eine hübsche Wiese geworden. Klingelt doch mal durch, wenn ihr wieder da seid, ich freu mich schon auf euch! Unsere Kleine kommt Mitte August zur Welt, es wird ein Mädchen und wir werden sie Jule-Nele nennen, das ist doch süß, oder? Oder findet ihr Nele-Jule besser? Sagt es mir einfach, ich kann Kritik vertragen. Bis dahin, also bis zur Entbindung bleibe ich sicherheitshalber noch in der Klinik, ihr könnt jederzeit zu Besuch kommen. Also alles Liebe und Willkommen zurück. Eure Walburga“.

Markus sieht mich an. Schweigend.

Jetzt weiß ich, warum er so komisch geguckt hat.

Die Lage ist mehr als ernst.

Sehr ernst.

Ich muss erst langsam verarbeiten, was ich gerade gehört habe. Die Information sackt bruchstückchenweise in meine ferienverwöhnte Neurologie. So richtig verarbeiten kann ich nicht, was ich gerade vernommen habe. Also ganz langsam von Anfang an.

Walburga liegt seit über fünf Monaten schwanger im Bett irgendwo in der Klinik und wartet darauf, dass Jule-Nele -oder so- reif wird in ihrem Bauch, daher muss sie sich schonen. Verstehe. Hausputz hat sie delegiert, die werdende Mama, das hat gut geklappt. Sieht man ja.

Aber Gartenpflege? Fehlanzeige. Nix gemacht. Gar nix. Sechs Monate lang.

Ich beginne zu verarbeiten, was Markus da gerade vorgelesen hat. Ganz allmählich zeichnen sich Bilder in meinem Hirn ab. Bedrohliche innere Bilder sind das, die sich da wie eine Gewitterfront am sommerlichen Himmel in Zeitlupe auftürmen.

Auf meiner Stirn bilden sich langsam Schweißtropfen.

Unser Garten war schon im letzten Sommer nicht gerade in Hochform, weil wir ja soviel arbeiten mussten, um das halbe Sabbatjahr reinzuholen. Gütiger Gott, wie wird er jetzt aussehen? Sechs Monate kein Rasen geschnitten, kein Strauchschnitt im Frühjahr wie verabredet war, kein Unkraut gerupft, keine Stauden angebunden?

Warum um alles in der Welt hat Walburga uns nicht informiert? Oder einfach einen Gärtner geordert? Mit bebender Stimme wende ich mich an Markus.

„Machst du bitte mal die Jalousien hoch? Ich kann das nicht.“

Und mein Mann schaut mich abermals sehr ernst an, legt seine Brille und den Brief weg und tut, worum ich ihn gebeten habe.

Die Jalousien an den drei großen Fenstern im Wohnzimmer gehen elektrisch hoch und so können wir aus drei bodentiefen Fenstern gleichzeitig sehen, was sich im Garten getan hat in unserer Abwesenheit. Wie zwei Forscher, die mindestens einen Dinosaurier im Garten erwarten, stehen Markus und ich an den Fenstern. Leicht gebückt. Mit angehaltenem Atem.

Das erste, was zu sehen ist, ist Unkraut, mindestens kniehoch. Auf der Terrasse. Zwischen den Steinen gewachsen wie bei Ruinen. Verfallenen und verlassenen Ruinen.

Verwahrlosung, fällt mir dazu ein. Bitterböse Verwahrlosung meines geliebten Gartenreiches.

Die Jalousien gehen höher.

Jetzt geben sie den Garten auf Augenhöhe frei.

Markus stöhnt und ich schlage die Hände vor dem Mund zusammen. Je mehr von unserem Garten zu sehen ist, desto weniger kann ich es glauben. Rasen? Keine Spur. Eine dichte grüne Wiese mit hoch aufgeschossenem Unkraut und vielen bunt blühenden Sommerkräutern dazwischen offenbart sich unseren entsetzten Augen. Weder Beete noch Stauden oder gar Kübelpflanzen sind zu erkennen, alles eine einzige Wildnis.

Hinten rechts dichtes Grün aus Rhododendron und den vor zehn Jahren übrig gebliebenen Kirschlorbeeren, ehemals hübsch in Form geschnitten.

Und jetzt?

Völlig verwildert, in alle Richtungen ungebändigt gewachsen.

Markus, der Mutige öffnet die Terrassentür und tritt hinaus. Ich folge ihm in einigem Abstand und in zitternder Haltung als ginge ich in einen Käfig voller Raubtiere. Er seufzt ergeben, als ich aber neben ihn trete und mein Blick auf die hinteren Beete links nahe meiner ehemals gepflegten italienischen Terrasse fällt, stoße ich einen spitzen, langgezogenen Schrei aus. Markus fährt zusammen und schreit wie in dieser lustigen Zalandowerbung auch gleich mit, wahrscheinlich vor lauter Schreck.

Ich aber, ich musste gerade Unglaubliches sehen.

Und hören.

Habe ein donnerndes Lachen der Natur in den Ohren, der Unterton voll gemeiner Rache.

Das hier, das ist organisiertes Verbrechen. Klarer Fall. Schon im Keim angelegt, als wir unsere Auszeit geplant haben. Grüne Mafiahölle an der italienischen Terrasse.

Stumm weise ich mit meinem Arm und zitternder Hand hinüber zum Beet. Markus folgt mit dem Blick und sein Unterkiefer klappt herunter.

Sie sind wieder da.

Es sind mehrere und sie sind groß. Übermannsgroß. Glänzend und gesund.

Die Kirschlorbeeren.

Dort wo sie jetzt stehen, hatten wir sie ausgerissen. Ich dachte, wir hätten alle geschafft. Aber jetzt sind sie wieder da. An der Mauer nahe an meinem Wintergarten. Hoch aufgeschossen wie triumphierende Zinnsoldaten stehen sie da. Sie nicken uns im Sommerwind zu, ich kann ihre Häme geradezu spüren.

Das ist zuviel für mich. Mit Knien, die mir beinahe den Dienst versagen, wanke ich zurück ins Wohnzimmer zu unserer gut bestückten Hausbar, hole zwei Gläser und schütte ordentlich Whisky hinein. Markus, der mir schweigend gefolgt ist, streckt einfach die Hand aus.

Ich reiche ihm ein Glas, wir trinken auf Ex, dann breche ich in Tränen aus.

Dies war eine Leseprobe aus: Die Kirschlorbeeren schlagen zurück

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